Ich hatte ja insgeheim gehofft, dass jemand nach meinem unpopulären Plädoyer für die Stärkung der Schiedsrichter im Fußball – und damit gegen den Videobeweis – zu einem ordentlichen Tackling ansetzen würde. Und tatsächlich hat Jean-Claude den Zweikampf angenommen. Aber herausgekommen ist, wie ich finde, bloß eine Blutgrätsche ins Leere.

Verwundert hat mich vor allem, dass Jean-Claude sich ganz überwiegend an den Einwänden gegen den Videobeweis abarbeitet; eigene, originäre Argumente für seine Einführung nennt er nur wenige. „Zur eigentlichen Streitfrage”, so schreibt er, sei „nüchtern festzustellen, dass es im Zeitalter moderner Videotechnik einfach keine vernünftigen Gründe gibt, diese nicht auch einzusetzen”. Eine bemerkenswert selbstgenügsame Argumentation, die offenbar davon ausgeht, dass die „moderne Videotechnik” etwas per se Wahres, Gutes und Schönes ist und keinerlei Legitimation mehr bedarf, zumal sie ja bereits ein ganzes „Zeitalter” prägt. Wer auf dieser Legitimation dennoch beharrt, muss also zwangsläufig ein veritabler Fortschrittsfeind sein, der, um es mit Jean-Claudes Worten zu sagen, im „Lager der postromantischen Gegenaufklärung” verharrt, so, „als wohnten wir noch in Lehmhütten und fürchteten, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt”.

Ein bedenklicher Standpunkt. Denn mit genau dieser Begründung kann man auch die videogestützte Komplettüberwachung des öffentlichen Raums gutheißen – inklusive der Fußballstadien übrigens -, die Vorratsdatenspeicherung und das Abhören von Telefonen: Gut und richtig ist schließlich, was (technisch) machbar ist, nicht wahr? Dass er faktisch für den „gläsernen Menschen” plädiert, scheint Jean-Claude jedoch nicht aufgefallen zu sein (oder es stört ihn nicht); vielmehr findet er, es sei „längst an der Zeit, ein neues Reich der Fußballfreiheit zu betreten, in dem sportliche Fairness, Gerechtigkeit und Schutz vor Manipulation endlich zu dem Recht kommen, das ihnen die rückwärtsgewandten Nostalgiker weiter verwehren wollen”. Man streiche die Wörtchen „Fußball” und „sportliche” – und schon hat man ein Statement, das glatt von Wolfgang Schäuble zu seinen Zeiten als Innenminister hätte stammen können. Mit der Aufklärung ist es halt so eine dialektische Sache, das wussten schon Horkheimer und Adorno; mit dem technischen Fortschritt verhält es sich ebenso. Und überhaupt: Freiheit? Fairness? Gerechtigkeit? Und all dies im Kapitalismus? Wer ist hier eigentlich der (Post-) Romantiker?

Später führt Jean-Claude aus, es sei ihm mit seinem Eintreten für den Videobeweis darum zu tun, „das Spiel und die Schiedsrichter selbst von der Bürde ihrer päpstlichen Stellung zu befreien, die sie ebenso wenig ‚unfehlbar’ ausführen können wie nämlicher den Stellvertreterposten Gottes auf Erden”. Dieses Plädoyer basiert – wie schon das inzwischen weitgehend eingemottete Klischee von den „Halbgöttern in schwarz” – zunächst einmal auf einer grundfalschen Vorstellung. Denn der Unparteiische hat ausschließlich weltliche Funktionen: Er ist Polizist, Staatsanwalt und Richter in einer Person. Seine unumschränkte, aber immerhin rational begründete Macht resultiert daher aus einer Verschränkung dieser drei Instanzen. Nun könnte man auf die ja keineswegs unsympathische – und übrigens wesentlich konsequentere – Idee kommen, die Gewaltenteilung auch im Fußball einzuführen, sprich: die Auslegung und Anwendung der Spielregeln zu demokratisieren. Nur würde das Spiel vermutlich unpraktikabel, wollte man nach jedem Körperkontakt eine Gerichtsverhandlung am Spielfeldrand stattfinden lassen.

Darüber hinaus zeugt die Ansicht, man müsse „das Spiel und die Schiedsrichter” von einer „Bürde befreien”, die in einem Zwang zur Unfehlbarkeit bestehe, von einer etwas fragwürdigen Vorstellung, wie der Fußball sein soll. Denn diese Argumentation läuft auf den Wunsch hinaus, es möge genau diese Unfehlbarkeit geben – und weil der Mensch nun mal nicht für sie sorgen könne, müsse es eben die vermeintlich objektive Maschine (vulgo: die Kamera) tun, die jedoch ihrerseits von Menschen programmiert respektive bedient wird und daher ebenso fehlbar ist (weshalb es sich beim Glauben an den untrüglichen Videobeweis auch um einen Mythos handelt). Lebt aber der Fußball in allen Ländern und Spielklassen nicht zuletzt von seiner Unberechenbarkeit, die nun einmal eine Menge mit Fehlern, mit Schwächen zu tun hat – der Spieler genauso wie der Schiedsrichter? Mag sein, dass das eine „strukturkonservative” Position ist, wie Jean-Claude meint. Er hingegen fordert letztlich Sterilität. Da bin ich lieber strukturkonservativ.

Es sei „unzweifelhaft”, behauptet Jean-Claude weiter, „dass man mit der Einführung des Videobeweises zumindest die schlimmsten Ungerechtigkeiten aus dem Spiel nehmen könnte und der schlimmsten Manipulation vorbeugen könnte”. Ach ja? Wer bestimmt denn eigentlich, was eine „schlimmste Ungerechtigkeit” ist? Wo wird die Grenze gesetzt, und von wem? Ist ein – vermeintlich oder tatsächlich – spielentscheidender Fehler des Unparteiischen wirklich „ungerechter” als ein 0:1 trotz erdrückender Überlegenheit? Und manipulieren nur die Referees, oder können das nicht auch die Spieler, etwa durch eine absichtlich vergebene Torchance oder einen absichtlichen Abwehrfehler?

Ich bleibe dabei: Lassen wir es grundsätzlich so, wie es ist, und setzen lieber auf eine noch bessere und professionellere Aus- und Fortbildung der Referees. Ich selbst versuche seit zwölf Jahren, im Amateurbereich dazu beizutragen – nicht zuletzt übrigens mit Videomaterial, das dazu dient, erstens eine einheitlichere Regelauslegung zu ermöglichen und zweitens Wahrnehmungsfehler zu reduzieren. Und dass sich auch im Profibereich eine Menge getan hat, habe ich ja schon in meinem ersten Beitrag deutlich zu machen versucht: Die Schiedsrichter sind längst nicht mehr unterbezahlte, untersetzte und unterqualifizierte Selbstdarsteller, sondern immerhin Halbprofis, denen man schnellstmöglich den Weg zur Vollzeitkraft bereiten muss. Videoanalysen nach (!) ihren Spielen sind mittlerweile obligatorisch – und dabei bekommen sie von ihren offiziellen Beobachtern das gezeigt, was auch die Spieler von ihren Trainern gezeigt bekommen: ihre allzu menschlichen Fehler nämlich – mit dem Ziel, sie zu minimieren. Ganz abstellen wird man sie nie können. Zum Glück.

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