Entmachtet sie!

von Jean-Claude

Gestern hat an dieser Stelle der geschätzte Kollege von Lizas Welt seine Sicht auf Fehlentscheidungen und technische Hilfsmittel im Fußball dargestellt, heute folgt die Gegenrede…

Vorab: Mit der Kritik an der Praxis der FIFA, den Schiedsrichtern einen Maulkorb zu verpassen, hat Liza natürlich vollkommen Recht. Auch das bessere Beispiel der UEFA, die einen wirklich wunderschönen Dokumentarfilm über die Arbeit der Schiedsrichter bei der EURO 2008 ermöglich hat, sei hier noch einmal ausdrücklich gelobt. Und selbstverständlich sollten Schiedsrichter von den Unsummen, die die Ligen und Verbände verdienen, als Profis ausgebildet, behandelt und bezahlt werden.

Die Gegenrede richtet sich daher vor allem an die strukturkonservative Grundgesamtheit des Fußballmilieus, der man das Offensichtliche offenbar etwas öfter sagen muss.
Mit Verwunderung reibe zumindest ich mir die Augen, ob der Tatsache, dass selbst Menschen, die ansonsten die Fahne der Aufklärung, der Rationalität und des Fortschritts gehisst haben, hier auf einmal ins Lager der postromantischen Gegenaufklärung hinüber wechseln. Dort verharren sie dann, als wohnten wir noch in Lehmhütten und fürchteten, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt.
Dabei ist es längst an der Zeit, ein neues Reich der Fußballfreiheit zu betreten, in dem sportliche Fairness, Gerechtigkeit und Schutz vor Manipulation endlich zu dem Recht kommen, das ihnen die rückwärtsgewandten Nostalgiker weiter verwehren wollen.

Zur eigentlichen Streitfrage ist nüchtern festzustellen, dass es im Zeitalter moderner Videotechnik einfach keine vernünftigen Gründe gibt, diese nicht auch einzusetzen. Immer mehr Sportarten (American Football, Eishockey, Feldhockey, Tennis, Rugby, etc.) tun dies sehr erfolgreich. Dass ausgerechnet die Faszination Fußball in ihrer Substanz davon beeinträchtigt sein sollte, ist daher nur mithilfe einer mythischen Fabelwelt erklärbar.
Dies ist auch der Grund, warum die Debatte um technische Hilfsmittel im Fußball sehr schnell einer Diskussion mit Fundamentalisten gleicht: Die Gegenseite hat einfach keine rationalen Argumente. Die wichtigsten lauten:

1. Der „Spielfluss” wird unterbrochen.
Gegenfrage: Aber von den zahlreichen Diskussionen und „Rudelbildungen” auf dem Feld nicht? Oder von elendig langen Verletzungspausen? Im Spiel Argentinien-Mexiko wurde minutenlang an der Seitenlinie diskutiert. Währenddessen sahen 85.000 im Stadion, inklusive der Spieler und auch der Schiedsrichter, die angewiesen sind, dort nicht hinzuschauen, in der dritten Wiederholung, dass es Abseits war, und zwar meterweit. Damit ist der „Spielfluss” auch bereits empfindlich gestört und das Schiedsrichtergespann wird in clownesker Manier der Lächerlichkeit preisgegeben. Viele andere Sportarten haben demgegenüber Möglichkeiten entwickelt, wie ein Videobeweis schnell und effizient eingesetzt werden kann, ohne dass der „Flow” oder darunter leidet.

2. Es wird immer Situationen geben, die auch nach der 30. Zeitlupe noch unklar sind.
Natürlich wird es das. Wie in jeder Sportart, die mit einem vernünftigen Videobeweis arbeitet, kippt dieser die Entscheidung der Schiedsrichter daher auch nur dann, wenn die Bilder EINDEUTIG etwas anderes nahelegen, siehe das Lampard- oder das Tevez-Tor. Alles andere sind Tatsachenentscheidungen und haben Bestand. Und der Schiedsrichter kann genau dadurch seine Autorität auf dem Platz festigen, dass er seine Fehlbarkeit eben nicht nur hinter verschlossenen Türen offenbart wird, sondern dass objektive Fehlentscheidungen auch revidiert werden.

3. Es würde weltweit nicht mehr unter den gleichen Bedingungen Fußball gespielt.
Im Gegensatz zu heute? Nun, dazu sei gesagt, dass es im Amateurbereich unterhalb einer bestimmten Spielklasse keine Linienrichter mehr gibt, ebenso wenig wie Spielsperren nach Gelb-Roten Karten. In der Kreisklasse wird übrigens auch schon mal bei 10 gegen 9 angepfiffen. Ein Grandplatz unterscheidet sich von englischem Rasen ganz erheblich. Und der Jugendbereich spielt bis zu einem bestimmten Alter eh nach ganz anderen Regeln. Von den grundsätzlichen Rahmenbedingungen europäischer Fußballprofis im Vergleich zu afrikanischen Nachwuchskickern einmal ganz abgesehen. Das Argument fantasiert eine Gleichheit herbei, die faktisch nicht existiert, um einen Zustand zu behalten, der faktisch Willkür bedeutet.

4. Es wird immer Fehlentscheidungen geben, auch mit Videobeweis.
Aha, kann man da nur sagen. Sollten Polizei und Justiz dann nicht vielleicht auch ihre Arbeit einstellen, weil es immer Verbrechen geben wird? Und: Das es auch immer Fouls und Regelverstöße geben wird, könnte man dann nicht gleich fragen: Warum überhaupt Schiedsrichter? Natürlich wäre das polemisch, aber ganz im Ernst: Wie soll man auf diese Lobrede des Fatalismus, die letztlich auf ein dumpfes „Wozu Fortschritt?” hinausläuft, argumentativ antworten? Vielleicht mit einem Allgemeinplatz: Auch, wenn man die Welt ebenso wenig retten kann wie den Fußball, spricht doch nichts dagegen, beides dort zu verbessern, wo es notwendig und möglich ist.

Die Fassungslosigkeit darüber, dass es im Fußball immer wieder absurde Fehlentscheidungen gibt, ist nicht ohne Grund vor allem in den USA besonders hoch, wo man in Punkto Videobeweis in allen einheimischen Profisportarten schon bedeutend weiter ist. Man muss nicht so weit gehen wie die New York Post, die „It’s a stupid sport anyway” titelte, aber ein amerikanischer Kommentator brachte es auf den Punkt: “

In a sport where a score of, say, 5-2 is considered an offensive onslaught of massive proportions, a legitimate goal must be counted. If the ball bounces over the line, it’s a goal. End of story, no debate, case closed.

Deswegen geht es auch nicht darum, ob „in diesem Milliardengeschäft Fehler der Schiedsrichter über den Verlauf oder gar das Ergebnis eines Spieles entscheiden” dürfen, um hier noch einmal den Kollegen Liza zu zitieren. Sondern es geht darum, das Spiel und die Schiedsrichter selbst von der Bürde ihrer päpstlichen Stellung zu befreien, die sie ebenso wenig „unfehlbar” ausführen können wie nämlicher den Stellvertreterposten Gottes auf Erden.
Es ist unzweifelhaft, dass es immer Fehlentscheidungen geben wird. Es ist aber auch unzweifelhaft, dass man mit der Einführung des Videobeweises zumindest die schlimmsten Ungerechtigkeiten aus dem Spiel nehmen könnte und der schlimmsten Manipulation vorbeugen könnte. Und das wäre im Sinne der Fairness und des Sports einfach das Richtige.

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