Der Protest Münchener Fans und vor allem der Ultragruppierung Schickeria gegen eine mögliche Verpflichtung des Schalker Torwarts Manuel Neuer wird derzeit heiß diskutiert. Das Thema hat dabei zwei Ebenen.

Erst einmal und nicht zuletzt gibt es da die sportliche Ebene. Bayerns Stammtorhüter Jörg Butt wird im nächsten Frühjahr 37 Jahre alt, selbst für Spieler_innen auf seiner Position ein hohes Alter. Dass die Verantwortlichen bei seinem Verein an eine Nachfolge denken, ist da nur verständlich. Der FC Bayern hat hier prinzipiell zwei Möglichkeiten: Zum einen könnte er einen bereits als bundesligatauglich erwiesenen Torhüter wie Manuel Neuer einkaufen. Zum anderen könnte er aber auch auf Nachwuchs setzen, wie die Ultras es fordern. In den letzten drei Jahrzehnten hat der Verein sich fast immer für die erste Variante entschieden. Butt kam von Benfica Lissabon und hatte bereits in Leverkusen und Hamburg gespielt. Oliver Kahn kam vom Karlsruher SC. Jean-Marie Pfaff kam als belgischer Nationalspieler und WM-Teilnehmer. Nur Michael Rensing, der sich allerdings nicht dauerhaft durchsetzen konnte und jetzt gerade in Köln angeheuert hat, und Raimond Aumann kamen aus dem eigenen Nachwuchs. Von Interimslösungen wie Uwe Gospodarek oder Gerald Hillringhaus wollen wir lieber gar nicht erst reden…

In der jüngeren und jüngsten Vergangenheit hat der FC Bayern jedoch verstärkt und mit Erfolg auf Nachwuchsspieler gesetzt. Diego Contento, Toni Kroos, Thomas Müller, Andreas Ottl und nicht zuletzt auch Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger sind Namen, die eine deutliche Sprache sprechen. Was spräche also dagegen auch auf der Torhüterposition auf den Nachwuchs zu setzen und, wie von Fans gefordert, Thomas Kraft perspektivisch zum neuen Stammtorhüter aufzubauen? Der heute 22-Jährige ist bereits im zarten Alter von 15 Jahren aus dem beschaulichen Betzdorf im Westerwald nach München gewechselt und hat sich dort in der Jugend und in der zweiten Mannschaft seine Sporen verdient. Gegen Basel und den AS Rom durfte er sogar schon internationale Luft schnuppern. Dass Kraft Potential hat, steht außer Frage. Die Frage, die der FC Bayern sich stellen muss, ist viel mehr, ob er die Zeit investieren möchte, die er noch benötigt, um auch international auf höchstem Niveau voll mithalten zu können. Schließlich ist das der Level, auf dem der Verein operiert oder zumindest operieren will.

Ironischerweise ist gerade Manuel Neuer ein gutes Beispiel dafür, wie schnell sich heutzutage ein Torhüter in der Bundesliga etablieren kann. Kam er in der Saison 2006/07 überhaupt erst zum Einsatz, weil Frank Rost in Ungnade gefallen war, wurde er am Ende der Saison von seinen Kollegen zum besten Torhüter der Liga gewählt. Ein anderes Beispiel für solch einen kometenhaften Aufstieg ist René Adler, der im selben Jahr bei Bayer Leverkusen den heutigen Bayern-Torhüter Jörg Butt verdrängte und aktuell bei Manchester United im Gespräch ist. Auch St. Paulis Thomas Kessler oder Hoffenheims Daniel Haas haben sich in Windeseile an das Niveau der Bundesliga gewöhnt und sind mittlerweile tragende Säulen ihrer Teams. Die Wahrscheinlichkeit, dass es auch bei Thomas Kraft ähnlich schnell gehen könnte, scheint hoch. Die Entscheidung jedoch liegt bei den Verantwortlichen des Vereins und die dürften nach den überschaubaren Leistungen der Hinrunde einen gewissen Zeit- und Erfolgsdruck verspüren.

Die zweite Ebene jedoch, von der eingangs die Rede war, hat mit Sport eher wenig zu tun. Hierbei geht es eher um Fragen der Moral. Es geht um Loyalität, um Professionalität und um Identität. Das Kernargument der Neuer-Gegner_innen beim FC Bayern ist nämlich keineswegs sportlicher Natur. Auch von Wert und Wichtigkeit einer gelungenen Nachwuchsförderung ist nur am Rande die Rede. Was die Kritiker_innen stört, ist vor allem, dass Manuel Neuer Schalker ist mit Leib und Seele. Bereits mit fünf Jahren war er Vereinsmitglied, als Jugendlicher stand er selbst in der Kurve und noch heute pflegt er gute Kontakte zu den Fans und nicht zuletzt auch zu den Ultras. Die Frage, die von Seiten der Neuer-Gegner_innen aufgeworfen wird, ist die, ob es richtig sein kann, dass so jemand für einen direkten Konkurrenten seines Heimatvereins spielt. Aus Ultra-Sicht und auch aus Sicht vieler anderer Fans sind Profis wie Manuel Neuer ein Traum, denn sie identifizieren sich voll und ganz mit ihrem Verein. Sie wirken wie ein Gegenentwurf zu den modernen Vollprofis mit Legionärsseele, die – so das Klischee – immer genau dort hinrennen, wo das meiste Geld fließt. Wer für viel Geld zu einem direkten Konkurrenten oder gar zu einem Erzrivalen wechselt, wird schnell als „Verräter“ abgestempelt. Und die Liste an „Verrätern“ ist lang: Andreas Möller, Bernd Schuster, Jens Lehmann, Bernd Hollerbach, Christian Vieri, Stan Libuda, Jens Jeremies, Jürgen Klinsmann… Fast könnte mensch annehmen diese Art von „Verrat“ sei eher die Regel als die Ausnahme. Spieler_innen, die durch dick und dünn zu ihrem Verein stehen scheinen selten zu sein. Selbst Cristiano Lucarelli, der den AS Livorno in die Seria A schoss und das Logo des Vereins auf den Unterarm tätowiert hat, ging irgendwann nach Donezk und spielt heute in Neapel.

Vielleicht ist es einfach ein wenig zu viel verlangt, wenn Fans erwarten, dass Spieler_innen im Profifußball sich vollkommen mit ihrem Verein identifizieren. Immerhin ist er für sie vor allen Dingen eines: Ihr Arbeitgeber. Und übermäßige Identifikation mit den eigenen Arbeitgeber_innen macht leicht erpressbar. Mensch denke nur an die hierzulande noch immer grassierende Seuche der „Lohnzurückhaltung“. Traditionalist_innen werden jetzt natürlich ausrufen, dass es doch eine Ehre sei für einen angesehenen Verein zu spielen und dass schließlich nicht alle die Möglichkeit hätten, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Sie haben damit natürlich nicht vollkommen unrecht, doch ignorieren sie völlig die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des heutigen Profisports. Vom problematischen Begriff der Ehre mal ganz zu schweigen. Fußballprofis sind schlicht nichts anderes als zumeist äußerst gut bezahlte Arbeitnehmer_innen in einem besonderen Zweig der Unterhaltungsbranche. Profisport hat mit Breitensport nicht viel zu tun. Profisport dreht sich wie jeder andere Wirtschaftszweig auch vor allen Dingen um die Akkumulation von Kapital und das Abschöpfen von Mehrwert. Im Profifußball gibt es enorm viel Kapital zu akkumulieren und Mehrwert abzuschöpfen, weil Fußballfans offenbar geneigt sind Unmengen von Geld für diese Art von Freizeitvergnügen und Identitätsstiftung auszugeben. Dass Fußballprofis da versuchen, ein ordentliches Stück vom Kuchen abzubekommen, ist an sich nur vernünftig. Schließlich würden andernfalls nicht etwa die Preise für die Endverbraucher_innen sinken, sondern einfach die Gewinne ihrer Arbeitgeber_innen wachsen. So viel Liebe zum Verein wäre nun wirklich übertrieben. Doch wahrscheinlich geht es den Fans des FC Bayern wohl auch weniger um politische Ökonomie als viel eher darum, sich nicht den Feind ins eigene Bett bzw. Tor zu holen, weil sie der integrierenden Kraft des freien Marktes dann doch irgendwie misstrauen.

Kommentare

2 Kommentare zu “Von Neuer Kritik und Politischer Ökonomie”

  1. SportsWire: Von Neuer Kritik und Politischer Ökonomie « jan tölva am 12.27.10 19:32

    […] gegen eine mögliche Verpflichtung Manuel Neuers durch den FC Bayern. Den Artikel gibt es [hier]. Verfasst von jntlv Abgelegt in journalistisches Hinterlasse einen Kommentar » LikeBe […]

  2. Von Neuer Kritik und Politischer Ökonomie « fussball von links am 12.27.10 19:34

    […] Den ganzen Artikel gibt es auf sportswire.de. […]

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