Vom 14.10. – 02.11. 2008 kämpfen Weltmeister Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik in Bonn bei der Schach-WM um den Titel.
Großmeister Artur Jussupow gehört während des Events zum offiziellen Kommentatoren-Team – und analysierte vorab die Schach-Philosophie, Spielweisen und Stärken der beiden Kontrahenten.

Nach langer Zeit des Wartens ist es jetzt endlich soweit: Wir erleben in Bonn den WM-Kampf zwischen Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik!

Wie so viele andere Schachfreunde hoffe ich auf spannende Partien. Die Hoffnung ist gut begründet, treffen doch hier zwei völlig unterschiedliche Spielertypen mit verschiedenen Schachphilosophien aufeinander.

Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede nicht größer sein: der „taktische Gott“ Anand trifft auf den „Endspiel-Gott“ Kramnik.

Anand, der spielfreudige Weltmeister aus Indien, fühlt sich in komplizierten Stellungen wie ein Fisch im Wasser. Stattdessen bevorzugt Kramnik eher das planvolle, strategische Spiel, bei der er die Stellung unter Kontrolle behalten kann.
Zwei Gegensätze also wie Feuer und Wasser? So einfach ist
es nicht im modernen Schach.

Im Spitzenschach hat die Eröffnungsvorbereitung inzwischen eine so große Bedeutung, dass man sie mit dem Aufschlag im Tennis vergleichen kann.
Und vielleicht wird deshalb der Spieler, der sich geschickter vorbereitet und mehr Überraschungen in der Eröffnung bringen kann, der Sieger sein.

Natürlich müssen die Top-Spieler in allen Phasen eines Spiels gut sein – sie müssen letztlich alle Situationen beherrschen und vielseitig agieren können.
Die besten Spieler werden also immer universeller.
So wird ein Anand nicht im Endspiel „schwimmen“, und ein Kramnik wird sich auch in einer verwirrenden Stellung behaupten. Doch trotzdem: Wenn es zum „langen Ballwechsel“ – um in
der Tennissprache zu bleiben – kommt, bekommen die stilistischen Unterschiede Bedeutung.

Anand ist der geborene Angriffsspieler, der sehr schnell rechnen kann und seine eigene taktische Chance niemals übersehen wird. Zudem besitzt er ein gutes positionelles Gefühl und pflegt eine aggressive, aber gleichzeitig natürliche Spielweise.
Im Laufe der Jahre hat er sich in vielen Bereichen verbessert, besonders in der Verteidigung.
Er ist stark in der Eröffnung, spielt einige aggressive Varianten mit Schwarz, und gewinnt somit als „Nachziehender“ viele Partien. Und er kann solide Systeme spielen.
Anand hat die notwendige innere Balance gefunden – und ist auf dem höchsten Punkt seiner Schachkarriere.

Kramnik hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Nach dem historischen Sieg gegen Kasparow in London 2000 hat sich der Russe mehr und mehr auf seine Stärken konzentriert: tiefe Eröffnungsvorbereitung, einzigartiges positionelles Gefühl, hervorragende Endspieltechnik.
Bei nahezu allen Gewinnpartien hatte er die weißen Steine, mit Schwarz spielt er pragmatisch auf Ausgleich.
Schließlich erreicht Kramnik die meisten Siege im Endspiel, eine Angriffspartie von ihm ist die seltene Ausnahme. Er ist sehr stark in der Verteidigung – und verliert nur wenige Partien.

In der folgenden Vergleichstabelle möchte ich meine – natürlich subjektive – Meinung über die Stärken der Spieler in verschiedenen Komponenten darstellen.
Die maximale Punktzahl in jeder Kategorie ist 10. Dies ist kein „absoluter Wert“, sondern soll die Position des Spielers und seine Stärke in diesem Bereich innerhalb der führenden Top Ten der Weltrangliste aufzeigen.

Eröffnung: Anand 9 Kramnik 10
Taktik: Anand 10 Kramnik 8
Variantenberechnung: Anand 10 Kramnik 9
Angriff: Anand 10 Kramnik 7
Verteidigung: Anand 9 Kramnik 9
Positionelles Spiel: Anand 9 Kramnik 10
Strategie: Anand 8 Kramnik 9
Endspiel/Technik: Anand 8 Kramnik 10

Natürlich, und dies muss deutlich betont werden, wird ein Zweikampf um die Weltmeisterschaft nicht allein durch die schachlichen Qualitäten entschieden.
Andere Faktoren werden eine wichtige Rolle spielen: guter physischer Zustand, kluge Match-Strategie, Motivation, das richtige Sekundanten-Team, bessere Vorbereitung – und nicht zuletzt die Form während des Wettkampfs.
Der Spieler, der es schafft, den Zweikampf in eine für ihn günstige Richtung zu lenken, um dann „seine“ Stellungen zu bekommen, kann möglicherweise so den entscheidenden Vorteil erhalten.

Text: Großmeister Artur Jussupow

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