Das folgende Gespräch mit Mr. Altravita, der das Buch Tifare contro von Giovanni Francesio zur Geschichte der italienischen Ultras übersetzt hat, setzt sich vor allem mit der Ultràbewegung auseinander. Es beschäftigt sich neben der Geschichte auch mit der sogenannten Mentalität der Ultras. Das Thema Gewalt muß dabei genauso differenziert betrachtet werden, wie die zunehmende Kommerzialisierung des Fußball und Repression gegen organisierte Fanstrukturen. Politische Interventionen sowie Einflußversuche aber auch mögliche emanzipatorische Ansätze werden aber genauso besprochen. Also, los geht’s.

Zunächst soll es um die Geschichte der italienischen Ultras. Vielleicht könntest du skizzieren, warum sich die ersten Ultras 1968 dazu entschieden haben, sich anders zu ihren Vereinen zu verhalten?

Ultrà ist historisch aus den linksextremen Straßenkämpfen der 60er und 70er Jahre geboren. Francesio weist das in “Tifare Contro” sehr schön nach. Die linke Protestbewegung nahm einfach Ausdrucksmittel, wie Megaphone, Trommeln, Fahnen und Sprechchöre, sowie die Symbolik der zahlreichen “Brigate” mit ins Stadion. Das waren dort ursprünglich dieselben Leute, die sich eben noch in Centri Sociali und besetzten Häusern oder auf Gewerkschaftsdemos engagierten und sich nun Freiräume im Stadien erkämpften. Erst die nachfolgende Generation orientierte sich mehr auf den “ästhetischen” Aspekt, also eine definierte Kultur des Supports – von Choreos über Pyro bis hin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Hatten die Ereignisse rund um militante Arbeitskämpfe in den Fabriken von Norditalien Einfluß auf die Entwicklung? Wenn ja, wie sah der aus?

Na klar. Die Leute, die gestern noch das Streikkommitee bildeten, waren morgen schon im Stadion. Und Leute, die eben noch gemeinsam in Genua eine Gewerkschaftsdemo bevölkerten, standen sich vielleicht am Abend schon in verschiedenen Kurven gegenüber. Wie gesagt, die ersten Gruppen hießen nicht zufällig meist “Brigate” oder gar “Brigate Autonome”. Oder nehmen wir den Gruß der Brigate Rossonere, die mit 3 Fingern eine P38 Pistole nachahmten. Auch hier ist eine Referenz an Straßenkämpfe oder die “Brigate Rosse” zu finden. Fakt ist, daß in den Kurven allerlei Kommunist_innen, Anarchist_innen, Militante, Autonome und Gewerkschafter_innen standen.

Ich habe den Eindruck, daß die ersten Ultras und die der 70iger, anders waren, als jene der 80iger und 90iger. Lassen sich Etappen der Entwicklung feststellen?

Ja sicher! Jede Generation hat eigene Ideale, Werte und Ausdrucksformen eingebracht. Ich will “Tifare Contro” jetzt hier nicht komplett referieren, aber es ist schon so, daß sich die Gründer_innengeneration irgendwann zurückzog und so auch die politische Komponente weitgehend verschwand. Bis auf wenige Ausnahmen gab es lange Zeit nur sehr wenige tatsächlich politisch ausgerichtete Kurven, wie in Livorno und bei Inter. In den meisten anderen gilt bis heute eine “keine Politik”-Regelung. Die 80er waren geprägt von exzessiven Gewaltorgien. Es war die Zeit der Klingen, der Stadiontoten und massenhafter Kämpfe in und um die Stadien. Spätestens in den 90ern war dann die Staatsmacht der “Feind Nr. 1”.

Ich erinnere mich, daß die ersten Auflösungserscheinungen der 90iger Ultrà-Gruppen mit der verstärkten Repression 2004 begann. Die Brigate Autonome Livornesi (B.A.L.) zum Beispiel wurden wie die Brigate Rosse behandelt und sollten als terroristische Vereinigung verboten werden. Die nächste Repressionswelle begann 2007 – nach dem Tod von Raciti. Begann das Ende der Ultras mit der Jahrhundertwende?

Eher so um 2004 / 05. Davor gab es schon noch hervorragende Kurven zu bestaunen. Danach kam es zu ersten Auflösungserscheinungen, beispielsweise in Bergamo oder bei Milan. Übrigens meist aus kurveninternen Streitereien heraus. Sei es wegen abweichender politischer Meinungen, sei es wegen Differenzen mit der Vereinsführung, wirtschaftlichen Interessen oder einfach unterschiedlichen Ansichten zu Fanfreundschaften. Die richtige Welle der Auflösungen begann dann 2007 nach der Tötung Gabriele Sandris und der dann überbordenden Repression.

Wie würdest du Ultrà beschrieben? Ist es ein Lebensgefühl, ein Habitus, eine bestimmte Subkultur oder alles zusammen?

Alles zusammen. Wobei es keine feste Definition von “mentalità” gibt, eher ein paar Haltungen, die die meisten für sich akzeptieren würden. Dazu gehört zu jedem Spiel zu fahren, Kämpfe mit Gegner_innen, Treue zu den Farben, Ehre, Treue, Männlichkeit, Heimatliebe et cetera. Grundsätzlich beinhaltet aber Ultrà immer einen Kern von Ausgestoßensein. Ultras sind illegal. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft und verhalten sich auch so – 24 Stunden am Tag.

Wie würdest du den Stellenwert des Support und der Choreographien beschreiben?

Als sehr hoch. Nicht umsonst zielt die staatliche Repression genau auf diesen Aspekt. Choreos und Transpis müssen angemeldet und genehmigt werden. Megaphone, Pyro, Trommeln und so weiter sind gleich ganz verboten. Hier zielt man auf die Faszination und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe und versucht, das Modell “Ultrà” möglichst unattraktiv zu machen. Mit einigem Erfolg, denn Farben stehen für Zusammengehörigkeit, Abgrenzung und Solidarität. Stilmittel also, mit denen man sich definiert und gegenüber anderen Ultras beziehungsweise dem Rest der Gesellschaft sich sowohl optisch als auch akustisch abgrenzt. Und eben nicht als dumpfe Chaoten. Ohne diese Stilmittel wären es ja Hooligans gewesen.

Sind organisierte Ultrà-Choreographien oder der Support bei den Spielen eine Art neues, kollektives Volkstheater, in dem die Avandgardeforderung von der Auflösung der vierten Wand zwischen Bühne und Publikum aufgehoben ist? Ist der Ultrà Support eine Emanzipation und Selbstermächtigung des Publikums?

Ich wüßte nicht, daß Ultras jemals solche Erwägungen angestellt hätten. Ob das denn dieser Definition entspricht, mögen Leute entscheiden, die sich mit Theatertheorie auskennen. Ich glaube, es geht erst einmal um das oben beschriebene: sich optisch und akustisch als “tribe” zu definieren und abzugrenzen. Und der tribalistische Aspekt darf bei der Betrachtung des Phänomens Ultrà nicht vergessen werden, dazu gehören dann auch so archaische Werte wie Männlichkeit, Stolz, Ehre und Heimatgefühl. In dem Sinne ist eine Ultrà-Choreo genauso wenig oder genau soviel Theater, wie der Kriegstanz der Maori. Zu fragen wäre zudem, ob das “Theater” eher für sich selbst aufgeführt wird. Emanzipation und Selbstermächtigung klingt aber suggestiv und ist mir auch sympathisch, ganz klar.

Aber nun zu etwas ganz anderem. Seit wann ist eigentlich der Spieltag in den oberen italienischen Ligen auseinander gerissen? Die Serie B war dabei, so weit ich mich erinnere schneller, als das Oberhaus. Hatte das Auswirkungen auf die Ultras?

Klar hatte das Auswirkungen. Italien ist ja geographisch eher gestreckt. Und Sonntagnachmittag kommst du halt eher von Mailand nach Bari als Freitag nach der Arbeit oder Sonntag um Mitternacht wieder zurück. Der zerpflückte Spieltag, der sogenannte “spezzatino” geht auf den ersten Pay-TV-Sender mit darauffolgenden Abendspielen zurück. Ich glaube, das war 1993 mit Telepiù. Seitdem gab es zum Beispiel kein einziges Mailänder Derby mehr an einem Sonntagnachmittag.

Nun zum Thema Gewalt. Glaubst du, wie die Gruppe Safety First, daß Gewalt zur Mentalità Ultrà dazu gehört? Und wo ist sie zu finden – im Stadion oder außerhalb?

In Italien gehörte Gewalt von Anfang an dazu. Mit wechselnder Intensität, mit oder ohne Messer, gegen die Polizei oder andere Gruppen. Gewalt war immer ein Bestandteil von Ultrà. Wie Francesio selbst anmerkt, wurde nie die Gewaltfrage gestellt. Es wurde nie versucht, Ultrà ohne Gewalt zu denken. Höchstens über die Formen wurde debattiert. Zum Beispiel über Angriffe in Überzahl oder Angriffe auf Normalos, aber auch zum Verbot von Klingen. Ansonsten gilt, früher fand Gewalt direkt im Stadion statt, weil man sich innerhalb der Sektoren frei bewegen konnte, teilweise auch auf dem Spielfeld selbst. Seit der Aufrüstung der Stadien für die WM ’90 verlagerte sich die Gewalt notgedrungen auf den Stadionvorplatz, in Züge, auf Bahnhöfe, in Innenstädte oder auf Raststätten.

Was ist mit dem legendären Messer des Capo? Gibt es das Messer und was hat es damit auf sich?

    Messer kamen erst in den süditalienischen Kurven als Mode auf – vermutlich aus kulturell-historischen Gründen. Sie schwappten dann in die großen Stadien Zentralitaliens – nach Rom und Neapel – und wurden daraufhin zur Mode in ganz Italien. Irgendwann mußtest du dann ein Messer tragen, um dich verteidigen zu können, selbst wenn du den Einsatz ablehnst. Fetisch waren Messer sicherlich für einige, für viele andere eher ein Utensil, “dass man lieber dabei hat”.

Was denkst du, ist Ultrà ohne Gewalt denkbar?

In Italien gehört Gewalt dazu. Sei es gegen rivalisierende Gruppen, sei es gegen die Sicherheitskräfte. Versucht wurde ein gewaltfreier Ansatz jedenfalls nie. Wie das miteinander verbunden ist und ob es praktikable Alternativen gibt, mag ich für Italien gar nicht beurteilen. Ultrà gewaltfrei ist wie Bier alkoholfrei: sieht so ähnlich aus, ist aber kein Bier.

Im Folgenden soll es um die gescheiterte Indoktrination von Nazis in die Kurve gehen. Seit den 80iger Jahren versuchten Nazis in Deutschland zunehmend in den Fußballstadien zu rekrutieren. Michael Kühnen, Nazi-Ikone und Mitbegründer der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), schreibt in seinem Rundbrief Die innere Front, daß der Kampf um die Stadionkurve aufgenommen werden sollte. Die Hamburger Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten (ANS / NA) sollte verstärkt den Einfluß auf Skinheads, Fußballfans und andere erlebnisorientierte Subkulturen auszudehnen. Gab es ähnliche gezielte politische Interventionen auch in den italienischen Kurven?

Ja, gab es, aber mit nicht wirklich durchschlagendem Erfolg. Einerseits gab es einen gesellschaftlichen Rechtsruck, der sich auch in den Kurven abbildete. Andererseits gibt es aber auch ein gravierendes Mißtrauen der Rechten “der Straße” von Casa Pound und anderen Freien Nationalist_innen auch gegenüber den eigenen politischen Institutionen. Bis auf die Ansätze in der Lazio-Kurve gab es, glaube ich, keine tatsächlich erfolgreiche Einflußnahme der politisch organisierten Rechten auf Fankurven. Versucht wurde dies zwar, aber selbst bei den offen faschistischen Brigate Gialloblù aus Verona war ein wirklich parteipolitischer Bezug nur schwer zu erkennen. Selbst bei Lazio identifizieren sich bekennende Faschos ja nicht unbedingt auch mit einer entsprechenden Partei. In den meisten Kurven gilt grundsätzlich Politikfreiheit und abgesehen von diffus rechtem Gedankengut, wie Rassismus und ein wenig Symbolik, passiert auf der Ebene nicht so viel, wie mensch vermuten möchte. Und in genügend Kurven stehen auch historisch eher rechte neben historisch eher linken Gruppen. Spannungsgeladen zwar, aber eben dann doch in derselben Kurve. Ich würde das Problem der Einflußnahme durch Parteien nicht so dramatisch sehen. Daß es einen veritablen Ruck nach rechts in der Gesellschaft gab, hat selbstverständlich auch die Kurven nicht ausgespart. Letztlich schlagen sich ja in aller Regel faschistische Ultras problemlos mit faschistischen “Celerini” oder greifen Polizeikasernen wie in Rom 2007 an. Würde die politische Ausrichtung hier eine große Rolle spielen, fände so etwas nicht statt. Und wenn ein Hellas-Anhänger mit Bananen nach einem schwarzen Spieler wirft, dann ist er sicher Rassist, denkt vermutlich rechts, wählt womöglich rechts. Aber er wirft die Banane nicht deshalb, weil ihm ein Lega-Abgeordneter dazu aufgefordert hat.

Was weißt du von den Hintergründen der 70iger und 80iger Jahre in Bezug auf politische Diskurse?

Das, was ich oben schon angedeutet habe. Mit der Selbst-Pulverisierung der Linken in Italien war plötzlich viel Platz für rechtes Gedankengut. Bis auf wenige Ausnahmen glaube ich aber behaupten zu können, daß politische Fragen nicht wirklich ausschlaggebend waren – weder für die 80er noch die 90er. Die historisch eher linke Fiorentina hat zum Beispiel eine seit langem bestehende Fanfreundschaft mit den eher rechten Hellas-Ultras aus Verona. Andere Gruppen sind mit dem Generationenwechsel von Links nach Rechts gerückt.

Gab es offen faschistische Bezüge auch in italienischen Ultrà Gruppen?

Lazio, Verona und Inter sind unter den oben genannten Einschränkungen ähnlich. Es geht hier aber meiner Ansicht nach weniger um Nationalsozialismus und Führerkult, sondern eher um das auch vom Casa Pound propagierte Bild der “Einsatzgruppen”. Die älteste Inter-Gruppierung, die Boys Squadre d’Azione Nerazzurre (S.A.N.), die Blauschwarzen Aktionsgruppen, beziehen sich explizit auf den Faschismus der Straße, also auf die faschistischen Gruppen der 20er Jahre. Allerdings mit einem gehörigen Mißtrauen gegenüber dem parteipolitisch aktiven “Establishment”. Zu den organisierteren rechtsextremen Kurven gehören sicher noch die Veneto Fronte Skinheads oder deren Ableger, die sich beispielsweise bei Varese tummeln oder deren Mailänder Gegenstücke bei Inter. Aber selbst rechte Kurven darf man sich jetzt nicht als stramm organisierte faschistische Revolutionsgarden denken.

Zum Thema des Kampf um die Stadionkurve habe ich noch eine Frage. Was hälst du vom Postulat, daß Politik im Stadion nix zu suchen hätte? Ist das Ultrà oder einfach nur naiv?

Beides. Einerseits ist es naiv zu glauben, mensch könne seine politische Gesinnung am Drehkreuz abgeben. Andererseits führte die “no politics”-Idee eben oft dazu, daß es nicht zu gewalttätigen politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Kurven selbst kam. Spannungen ja, aber politische Ausrichtungen hätten die Kurven in den 80er/90ern schlicht implodieren lassen. Mensch stellt Ultrà also vor alles andere, dem ist alles andere unterzuordnen.

Nun zu etwas anderem. Francesio hat in seinem Buch darauf insistiert und auch du hast das im ersten Teil des Gesprächs betont, daß die Ultras ursprünglich Formen und Symboliken der außerparlamentarischen Linken übernommen haben. Francesio entdeckt außerdem eine grundsätzliche antagonistische Dimension. In Deutschland, würde ich behaupten, war das lange anders. Erst seit den 90iger Jahren haben sich zunehmend explizit linke und emanzipatorische Ultrà Gruppen sowie antifaschistische Bündnisse von Fußballfans gebildet. Die aktuelle Debatte um Fankultur, die maßgeblich durch die Kampagne Zum Erhalt der Fankultur angestoßen wurde, setzt sich zum Teil sehr kritisch mit Ultrà auseinander. Was hältst du von der aktuellen Diskussion?

Ach mir selbst würde eine Art Ehrenkodex, wie wir ihn damals hatten, völlig ausreichen. Das heißt, keine Messer, keine Fallen, keine Überzahlangriffe, keine Molotov-Cocktails, keine Schußwaffen und wenn jemand blutend am Boden liegt, ist Schluß. Unter diesen Voraussetzungen halte ich Kämpfe zwischen verschiedenen Lagern oder aus welchen Gründen auch immer für nicht so dramatisch. Mensch hat ja immer noch die Wahl, ob mensch teilnehmen will oder nicht. Daß einige einen Gewaltfetisch ausleben, will ich gar nicht verneinen. Bei einer Minderheit geht es eben wirklich nur noch um Gewalt. Die würde ich dann aber konsequenterweise nicht mehr als Ultras bezeichnen. Ab und zu mal eine saubere Schlägerei mit Stöcken oder Gürteln empört mich jetzt aber nicht wirklich. Passiert doch beim Oktoberfest oder der Bundeswehr auch. Eben dort, wo immer Testosteron auf Alkohol trifft.

Die Kritik an Ultras von emanzipatorischer Seite konzentriert sich zumeist auf die Gewalt, die entindivualisierenden Kollektive sowie den Diskurs um Tradition und eine verkürzte Kapitalismuskritik. Des Weiteren wird zum Teil zu Recht Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Homophobie im Stadion gegen Ultras gewendet und so der staatlich bürgerliche Diskurs mal mehr mal weniger offen reproduziert. Glaubst du trotzdem, daß es auch emanzipatorische Ansätze in der Ultràkultur gibt?

Selbstverständlich. Wir reden schließlich von der bedeutendsten und langlebigsten italienischen Jugendkultur der letzten vier Jahrzehnte. Hunderttausende Menschen! Ohne jetzt in’s Detail zu gehen, geht es bei Ultrà eben immer auch um “gegen etwas sein”. Tifare contro halt. Gegen den Gegner. Gegen den Präsidenten. Gegen die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft. Mensch sieht sich außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Werte und der Gesetze, sei es wegen der eigenen Klassen-Herkunft, sei es als offensive Abgrenzung. Deshalb eroberte und verteidigte mensch die Stadienkurven als Platz für ein spontanes und freies Beisammensein und Leben nach selbstgesetzten Regeln. Viel emanzipatorischer geht’s doch gar nicht – egal wie das dann mit Inhalten gefüllt wurde. Ich würde sogar sagen, daß die ganze Thematik Ultrà zu 100% mit der Idee von Emanzipation verschränkt ist. Schließlich wird ein Ultrà ja von niemandem akzeptiert. Außer von Gegnern und das nennt sich dann “Respekt” und ist Bestandteil der “Mentalità”.

Glaubst du, daß der Ausstieg aus der bürgerlichen Welt das Ideal oder eine Utopie der Ultras ist?

Nein, das wäre zu weit gegriffen. Es geht um das Erkämpfen und Verteidigen der eigenen Freiräume mit eigenen Regeln, um Inseln innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft sind “die anderen”. Keine_r wäre so vermessen zu glauben, daß diese “anderen” im Zuge einer Revolution dann auch alle Ultras werden würden. Mensch will ja auch durchaus “anders sein”. Wenn ein Ultrà Revolutionsutopien hat, dann hat er die unabhängig von seinem Ultrà-Sein, als Bestandteil seiner politischen Ideologie. Ultrà ist Ultrà, keine Revolution. Andererseits sind ja die meisten Ultras kein asoziales Gesocks, sondern Menschen mit einer bürgerlichen Identität. Das heißt, sie gehen arbeiten, studieren, haben Frauen, Freund_innen und Kinder. Der volle Ausstieg ist sicher zu utopisch, um als Utopie zu gelten und letztlich geht es ja schon noch um Fußball.

Ultrà scheint, wie ich jetzt schon oft angenommen habe, lediglich kollektiv möglich. Eine hierarchische Pyramide existiert ebenfalls. Braucht es den Capo und die Hierarchien wirklich? Sind sie notwendig, um Ultrà zu sein? Oder glaubst du, daß es auch enthierarchisierte Ultrà Gruppen geben könnte?

Enthierarchisiert sicherlich nicht. In den Bürgerkriegsszenarien der 80er und frühen 90er Jahre im Umfeld italienischer Stadien war eine straffe militärische Befehlskette schon aus Selbstschutz notwendig. Wenn ein paar hundert oder tausend Leute große Gruppen aufeinander oder die mobilen Einsatzkommandos des Innenministeriums treffen, dann muß schon jemand entscheiden, wer was tut. Außerdem ließen sich Choreos, Gesänge usw. schlecht hierarchiefrei organisieren. Wie weit mensch diesen “Gehorsam” dann treibt, dazu gab und gibt es immer unterschiedliche Auffassungen straffer organisierter und eher “bunter” Gruppen. Die wirkliche Hierarchie aus Capo und Führungsriege ist aber eher eine italienische Eigenheit und dafür gibt es auch historische Gründe, wie eben die Vehemenz und Brutalität der Auseinandersetzungen. Dafür gab es aber eben auch immer Ansprechpartner, die Verantwortung übernahmen und eingriffen, wenn eine Situation aus dem Ruder zu laufen drohte. Wenn 10.000 Romanisti auf Auswärtsfahrt gehen, dann ist Hierarchiefreiheit ganz einfach Irrwitz – dann gäbe es noch mehr Tote.

Jetzt haben wir mit der Geschichte der italienischen Ultras, der Mentalität, den politischen Dimensionen und emanzipatorischen Potenzial die für mich interessanten Themenbereiche abgearbeitet. Wenn ich was vergessen habe, dann hast du jetzt die Gelegenheit deine Ausführungen zu vervollständigen.

Nö, reicht mir echt jetzt. Kauft’s Buch und dann reden wir nochmal drüber 😉

Danke für das Gespräch. Viel Glück mit dem Buch Tifare contro. Hoffentlich läuft es gut. Vielleicht gibt es dann weitere Übersetzungen von dir. Zum Beispiel von Boninis A.C.A.B.

Das komplette Gespräch mit einigen Ergänzungen und Hintergrundinformationen gibt es in zwei Teilen hier und hier.

Kommentare

2 Kommentare zu “Die antagonistische Kurve, ihre Geschichte und ihre Mentalità”

  1. Wer, was, wie ist Ultrà? « URS – Ultras Roter Stern am 11.15.10 22:09

    […] wie Francesio sein Buch zur Geschichte der italienischen Ultras nennt, und Mr. Altravita in einem Interview erläutert. Francesio nennt dies die „antagonistische Dimension“ von […]

  2. amaranto» Blogarchiv » Antagonist* nella Curva – Wer, was, wie ist Ultrà? am 12.04.10 23:44

    […] wie Francesio sein Buch zur Geschichte der italienischen Ultras nennt, und Mr. Altravita in einem Interview erläutert. Francesio nennt dies die „antagonistische Dimension“ von […]

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