May
23
Wohl jeder Fußballfan, der einigermaßen bei Verstand ist, hat gestern Abend im FC Internazionale einen verdienten Champions League Sieger gesehen. Leider musste man dafür kommentartechnisch – zumindest im deutschen Normalverbraucherfernsehen, aka Sat1 – auch wieder eine Menge unfassbar unanalytischen Unsinn ertragen.
Vielleicht sollte das Wort “Catenaccio” zwangsweise aus dem Wortschatz gestrichen werden, denn der Gebrauch dieser Vokabel durch deutsche Fußballkommentatoren in Zusammenhang mit italienischem Fußball lässt sich nur noch mit den pawlow’schen Hunden vergleichen. Um es wenigstens einmal deutlich zu sagen: Nein, Inter spielt keinen Catenaccio, auch gestern nicht. Die letzte Mannschaft, die auf internationaler Ebene wenigstens ansatzweise auf eine Art Catenaccio zurückgriff und damit erfolgreich spielte, waren ausgerechnet Otto Rehagels Griechen bei der EM 2004 in Portugal – was hierzulande bezeichnenderweise weit weniger negativ verbucht wurde.
Catenaccio besteht aus einer besonders defensiven Variante eines 5-4-1, mit einem Abwehrriegel aus 5 Spielern, inklusive Libero, zwei defensiv orientierten Mittelfeldspielern, zwei Flügelspielern und lediglich einem Stürmer. Inter agiert dagegen mit einem 4-3-3, bzw. 4-5-1, je nachdem, ob man Eto’o und Pandev auf den Außen als Stürmer werten will oder nicht, “gelernte” Stürmer sind sie auf jeden Fall. Was Inter dabei auszeichnet, ist keineswegs bedingungslose Defensive oder Zerstörungsfußball ala Rehakles, sondern überfallartige Angriffe auf den Gegner, vor allem, solange man (noch) nicht führt. Bei eigener Führung ziehen sich Sneijder, aber vor allem Pandev und Eto’o dann weiter zurück. Folglich handelt es sich um zwei Varianten (schematisch überzeichnet):
Variante 1:
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Variante 2:
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Auch in letzterer Formation variiert Inter bei eigenem Ballbesitz allerdings blitzartig und kann so die entscheidenden Konter setzen, was gestern zum Beispiel beim 2:0 hervorragend klappte. Wie erfolgreich (auch und gerade in offensiver Hinsicht) diese Taktik ist, lässt sich übrigens auch an der Tatsache ablesen, dass es in dieser Saison (in allen Wettbewerben) K-E-I-N-E andere Mannschaft gab, die gegen Barcelona 3 (in Worten: drei) Tore erzielen konnte. Hat sich was mit Catenaccio.
Warum deutsche Sportreporter, “Experten” und Funktionäre aus Gründen der Fußballästhetik offenbar erwarten, Inter müsste nach eigener Führung so weiterspielen wie ManU gegen Bayern (mit dem bekannten Ergebnis) erschließt sich wohl nur, wenn man eine rot-weiße, eine weiß-blaue und eine schwarz-rot-goldene Brille übereinander trägt. Bayern selbst war in Manchester übrigens nicht so dumm, auf die deutsche Rhetorik reinzufallen, sondern zog sich nach dem 2:3 von Robben weit zurück, ganz, gaaanz weit.
Auch Inter spielt keineswegs besonders “italienisch”, sondern besonders “mourinhisch”, denn der Portugiese ließ sowohl den FC Porto als auch den FC Chelsea bereits ganz ähnlich agieren. Nun verlässt José den FC Internazionale, und – jede Wette – Real Madrid wird unter ihm ganz sicher keine galaktische 100-Tore-Offensive haben wie in dieser Saison. Dafür aber werden sie vielleicht auch nicht bereits im Achtelfinale der Champions League die Segel streichen, sondern sich mühsam aber sicher an den Titel heran schleichen.
Wobei mit der Schlange weder Mourinho noch seine bevorzugte Spielweise gemeint sind: Inter führt seit jeher das Wappen der ehemaligen Mailänder Fürstenfamilie Visconti, auf welchem eine Schlange zu sehen ist, weswegen die Interisti in Mailand und Italien auch „Biscioni” (Schlangen) genannt werden. Nach 45 langen Jahren ist es für die schwarz-blaue (für alle Milanisti = dunkle) Seite von Mailand nun wieder soweit: Man holt (neben Meisterschaft und Pokal) die wichtigste Trophäe des europäischen Vereinsfußballs unter die goldene Madunina des Mailänder Doms. Zum zehnten Mal geht Europas Vereinskrone damit übrigens an eine Mannschaft aus der lombardischen Metropole – mehr Titel hat keine andere Stadt gesammelt. Nächstes Jahr allerdings könnte Madrid ausgleichen…
Kommentare
1 Kommentar zu “Tripleta Inter oder das Jahr der Schlange”
Giusto. Finalmente un tedesco che ne capisce! Danke, alles richtig. Sogar di Madunina richtig eingebracht. Vielleicht soll Inkompetenz am Fussball-TV in trägen Phasen dazu dienen, den kundigen Zuschauer zu stimulieren 🙂 …zu eben solchen Blogs.
Ciao Ragazzi