Von welchem Heft möchte, könnte oder sollte man sich durch die Saison begleiten lassen, mit welchem muß, kann oder möchte man am meisten Zeit verbringen und welches nimmt bei seinem Langzeitaufenthalt auf dem Couchtisch am wenigsten Platz weg und sieht dort am besten aus?

Teil 2 – Kicker
Kicker Sonderheft Bundesliga 2008/09 – 250 Seiten – 5,50 €
Gimmick: Die Stecktabelle

In diesem Teil wird ein Wort häufig benutzt werden: “Stecktabelle”
Das soll nicht als sprachliche Nachlässigkeit oder Mängel am Thesaurus, sondern als Stilmittel zur Beschreibung der besonderen Kicker-Sonderheft-Charakteristik gewertet werden.

Das Kicker-Sonderheft sieht aus wie immer mit wechselnden Jahreszahlen. Es ist rot. Es steht Bundesliga 2008/09 drauf. Die Ähnlichkeit im designfreien Raum zur SportBild hat offensichtlich dazu veranlasst, den Schriftzug “Das Original seit 1963” hinzuzufügen.
Ausserdem steht noch drauf, daß, “Exklusiv” die Stecktabelle enthalten ist.
Als ob wir das nicht wüssten …
als ob wir ihn nicht deshalb kauften…

“auch für 3.Liga”!
Der Grund, weshalb Anhänger eines Vereins der neuen Staffel bedenkenlos zugreifen können ist damit bereits gefunden. Ich kann vorweg nehmen, daß im Kicker-Sonderheft die Berichterstattung über diese Teams unter den Testkandidaten mit jeweils einer Seite ausserdem bereits am umfangreichsten ist. So richtig liebevoll wirkt das aber auch nicht.
Mit der selbst gemachten Erfahrung wie es ist den “eigenen” Verein in der Drittklassigkeit beinahe vergessen zu wissen, und da der Kicker sowieso zu jedem Sportereignis und jedem Pokal jenseits der Boßel-WM ein Sonderheft produziert, sei ihm einfach mal die Idee ans Herz gelegt, dies auch für die Ligen unterhalb der zweiten zu tun; und fürs Boßeln.

Sein Alleinstellungsmerkmal ist die Stecktabelle.
Der Kicker ist die Schrankwand unter den Bundesliga-Sonderheften, wertig, solide, nützlich, fundiert, alles drin und alles dran und doch bieder, sperrig, nicht richtig schön und irgendwie ziemlich langweilig, der Grad an ausgestrahlter Lebensfreude ist gering, Möbel und Heft gänzlich humorfrei.
Aber immerhin gibt es die Stecktabelle.
Die Stecktabelle hängt in gefühlten 90% aller deutschen Junggesellenhaushalten an zentraler Stelle, gerne in der Küche. Mit dem Zusammenziehen mit einer Frau wandert sie dann häufig an einen weniger prominenten Ort, WC-Tür Innenseite, den Wischmops und Besen zugewandte Seite des Kühlschranks… und eh man es sich versieht, hängen da Einkaufszettel oder Stundenpläne drüber. Und doch, davon lassen tun Männer im spielfähigen Alter eigentlich nie.

Sie wird schon mancher ansonsten öden Party über einen toten Punkt geholfen oder das Eis zwischen wildfremden Menschen gebrochen haben, Männer, die “mitgebracht” wurden oder sonst niemanden kennen, finden sich oft zwischen Kühlschrank und Stecktabelle ein, werden dort sesshaft, diskutieren, stecken das Teil beinahe zwanghaft um und der Gastgeber erkennt die unter seinen Gästen weniger gut gelittenen Vereine am nächsten Tag daran, daß sie neben den Kippen im, wie immer reichlich übriggebliebenen, Nudelsalat stecken, ziellos in der Kloschüssel treiben oder sie ihn beim Verlassen des Hauses nach dem Fenstersturz auf dem Gehweg liegend erwarten.
Na gut, wieder eine Saison ohne Bayern und Braunschweig.
Rührend wie mancher dann Ersatzwappen in abendlicher Bastelarbeit herstellt um die Lücken zu füllen.
Die Stecktabelle eines Mannes erzählt viele Geschichten und sagt viel über ihn aus.
Zeitpunkt der letzten Aktualisierung, allgemeiner Zustand, Position in Lebensraum und Leben, Wunschtabelle eines Realitätsverweigerers oder Festhalten an den Tatsachen, Zweitligamontagsspiel korrekt eingepflegt?
Und der Vollständigkeit halber, ja, es wurden auch schon vereinzelt Junggesellinnen mit einer Stecktabelle in der Küche angetroffen, das aber eher ausgesprochen selten.

Weshalb ich mich solange mit der Stecktabelle aufhalte?
Es gibt über den Kicker schlicht nicht viel zu schreiben.

Die Zeitschrift wird häufig nur als Begleitschreiben für die Tabelle verstanden. Schon mancher Käufer hat versucht, das Heft im Sinne der Verpackungsverordnung am Kiosk zurückzulassen.

Hier beginne ich aber, ihm Unrecht zu tun, dem Kicker. Die Hintergrundartikel sind inhaltlich gut, sie strotzen vor Sachverstand, man nähert sich der Materie wie man sich ihr eben genähert sehen möchte, ernsthaft und professionell.

En Detail

1.Liga
Ein Vorwort, ein Inhaltsverzeichnis, ein Interview mit Jürgen Klinsmann, der ist diese Saison wohl Pflichtthema, und dann folgen auch schon auf 44 Seiten die Hintergrundartikel zu jedem Erstligisten, bei den Bayern auf vier, bei allen anderen auf zwei Seiten.
Diese Artikel lassen, wie gesagt, keine Wünsche offen ausser vielleicht ein bißchen Witz, ein wenig Leidenschaft, ein Quentchen emotionaler Irrationalität, eine Prise Originalität.
Man fühlt sich nach der etwas zähen Lektüre aber aufs Beste informiert und vorbereitet auf das, was da komme.
Aufstellungsgrafik, Interview mit dem Trainer, Plus und Minus des Teams, Bilder in angemessener Zahl und Grösse, Ergebnis einer Onlineumfrage alles ist stimmig, nur eben unglaublich nüchtern.

Man muß den unterschwelligen Wahnsinn schon suchen
Online-Umfrage zu Bayern München:
“Geht das gut mit Jürgen Klinsmann?”
Was die Frage bedeuten soll, das wissen hoffentlich wenigstens die, die geantwortet haben. Die möglichen Antworten waren aber auch nur Ja oder Nein, “Weiß nicht” hätte das Ergebnis wohl, wie schon die Frage, schwer interpretierbar gemacht.

Klinsmann im Interview:
“[…]nicht möglich im 4-5-1 zu spielen. Unsere Spielertypen lassen das nicht zu. Für uns wäre es schwer, anders als im 4-4-2 zu spielen, weil wir keine Aussenstürmer haben. Das 4-4-2 bleibt mit diesem Kader die Basis. Wir können im Moment auch kein 4-3-3 praktizieren[…]”
Alles klar?
Warum spielt eigentlich niemand mehr zwei hinten einer ganz hinten fünf vorne und der Rest dazwischen zwanglos und locker verteilt?

1.Liga, zweiter Teil
Es folgen eine Kolumne von Ottmar Hitzfeld, die man gelesen hat oder nicht, der Kolumnistenpool wird vorgestellt, immerhin ohne die häufig und lange unvermeidlichen Lattek, Matthäus, Breitner, eine Übersichtskarte von Deutschland mit den Bundesligastandorten und weitere vier Seiten pro Erstligaclub mit ganzseitigem Mannschaftsfoto, Kader, Geburtstage der Spieler, falls man mal gratulieren möchte, na endlich Grösse und Gewicht und bisherige Vereine.
Schade, nur die Trainer der letzten zehn Jahre werden aufgelistet, in der SportBild noch alle seit 1963, nüchterne Aufzählungen, die bei näherer Betrachtung den Blödsinn des Trainerrundlaufs durch Deutschland offenbaren.
Dann noch alle Spieler einzeln im Bild, zu unserem Bedauern offensichtlich gestellt und vorbereitet, mit Durchschnittsnote der vergangenen Saison, Saisonverlaufsgrafik, diesem und jenem.

Die erste Statistikstrecke schliesst sich an, sechs Seiten für die 1.Bundesliga, in der SportBild gab es zehn, die Frage nach dem meistgetunnelten Spieler der Saison 07/08 bleibt offen. Dafür zweiseitige Erklärung des berüchtigten Kicker-Managerspiels, seit der flächendeckenden Einführung des Internet mindestens ebenso Pflichtprogramm wie die Stecktabelle. Seitdem braucht man dafür auch nicht einmal mehr das Heft.
Ansonsten Ewige- und Zuschauertabelle u.v.a. übrigens auch der Hinweis auf das jährlich zum Saisonende erscheinende “Finale-Sonderheft”, daß praktisch ausschliesslich in einen Umschlag geklammerte Statistik darstellt.
Beide Hefte zusammengenommen lassen selbst die SportBild auf dem Gebiet erblassen, und bildeten, würden sie über Jahrzehnte gemeinsam ins Regal gestellt, unbestritten den Brockhaus des Bundesligafußballs.

Die 2.Liga
Stiefväterlich rustikal wird sie behandelt. Einleitender kurzer routinierter Kurzartikel, Interviews mit den Trainern der drei Absteiger. Daß sie trotzdem im Amt blieben macht sie schliesslich irgendwie sehenswert.
Im Folgenden lediglich eine drittel Seite pro Verein Bericht incl. Foto, die immerhin durchgehend von unterirdischer Komposition, endlich ein wenig rudimentäres Entertainment. Anschliessend jeweils auch die zwei Seiten Manschaftsfoto und Kader wie bei den Erstligisten, in der zweiten gibts keine Porträtfotos und nur drei Seiten Statistik.

DFB-Pokal
Darüber auch noch eine Seite mit Spielplan und Ergebnissen der vergangenen Saison.

Die 3.Liga
Streng hierarchisch noch ein bißchen weniger Begeisterung als bei der zweiten.
Eine Seite Vorbericht und Spielplan.
Eine Seite pro Verein, Spieler, Trainer, Allgemeines, wenige Zeilen Hintergrund, trotzdem prägnant.
Wenigstens gibt es bei den Mannschaftsbildern noch in Einzelfällen eine gewisse Verschrobenheit zu bewundern.
Bei der zweiten Mannschaft des VfB Stuttgart haben sich auf das Bild ein sichtlich desorientiertes Plüschkrokodil und der älteste Mensch der Welt verlaufen.
Trotzig setzen die Dresdner ihre Mannschaft in Gelb und Rot und Blau und Schwarz vor schlecht komponierte Frauenkirche, wie der UNESCO zum Hohn. `Seht her, wir bauen die Brücke und haben auch sonst keine Skrupel beim Arrangement.´
Jahn Regensburg sieht aus wie die Arbeitskolonne eines Zuchthauses beim Steineklopfen und die Stuttgarter Kickers wie ein Bautrupp im Rohbau eines Zwischenlagers.

usw.
Der Kicker zeigt seine besonders großes Herz für die ärmsten Säue auf dem Platz, vier Seiten über die Schiedsrichter, na wenn das nicht für jede Rudelbildung und Pöbelei aus albernstem Anlass des letzten Jahres entschädigt.
Es folgt alles, was man sonst noch braucht, drei Seiten Frauenfußball, Regionalliga, Gut: Abschlusstabellen Junioren, UEFA Fünfjahreswertung, WM-Qualifikation, Tabellen sämtlicher europäischen Ligen, Confed-Cup, eine Rückschau auf die EM.
Hier scheint der Schlussredakteur selbst kurz eingenickt zu sein, denn im ersten Teil des Artikels wird mit auf 243 Seiten zuvor nicht erlebter Verve, Kritik am Auftreten der deutschen Nationalmannschaft geübt, bis sich der Autor offensichtlich über sich selbst erschreckt und zum unpassend versöhnlichen Ende überleitet.

Auf Seite 249 passiert es dann, es wird witzig. Django Asül darf einen ebenso kurzen wie auch zahm gelungenen Kommentar schreiben und dann ist ob des Kulturschocks auch schon Schluss.

Das Kicker-Sonderheft ist nicht witzig, nicht charmant, nicht überraschend, aber doch eine grundehrliche Haut. Man würde wohl nicht mit ihm auf die Piste gehen, ihm aber ohne Bedenken jederzeit Geld leihen oder den Wohnungszweitschlüssel anvertrauen.

Kommentare

Comments are closed.

blogoscoop