Rezension: „Sommermärchen im Blätterwald – die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse“

von Dagmar Schediwy

Franz Beckenbauer liebt seine Frau Heidi und hat, wie er „Bild“ gesteht, eine neue Liebe, die zu Deutschland entdeckt. Auch Chefkolumnist Franz-Josef Wagner zeigt Gefühle: „Wir haben nur ein Land, das so schön ist, dass einem die Tränen kommen. Das Land der Burgen, das Land der vier Jahreszeiten. Wir haben unser Deutschland vergessen. Nun zeigt es sich wieder aufregend wie eine Frau. Ich glaube man muss sein Land lieben wie eine Frau.“ In seinem „Liebesbrief an Deutschland“ wird ein altertümliches, vorindustrielles Deutschlandbild beschworen, in dem der Holocaust nie stattgefunden hat.

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„Sommermärchen im Blätterwald“ von Dagmar Schediwy führt uns zurück in eine schon fast vergessene Zeit, die nun mit der EM eine Neuauflage zu erleben scheint. Mit ihrem Buch hat die Autorin die erste umfassende Analyse der WM-Printmedienberichterstattung 2006 vorgelegt. Neben der Bild-Zeitung nimmt sie Spiegel, Zeit, FAZ, taz, Süddeutsche Zeitung, Jüdische Allgemeine sowie das türkischsprachige Massenblatt Hürriyet näher in den Blick. Schwerpunkt ihrer Analyse ist die Patriotismusdebatte. Gründlich räumt die Autorin mit dem Mythos auf, der nationale Begeisterungstaumel, der das Land vor zwei Jahren erfasste, sei spontan erstanden. So warb die Bild-Zeitung schon vor der WM penetrant und fast gebetsmühlenartig für Nationalhymne und Deutschlandfarben. In einem Crashkurs informierte das Blatt über den richtigen Umgang mit den nationalen Symbolen und staffierte seine Leser bereits Tage vor dem Fußballspektal mit den notwendigen Utensilien aus. Während der Boulevard die notwendigen Affekte erzeugte, stellten die sogenannten Qualitätsmedien die passenden Argumente bereit. Die Autorin zählt einige der gängigen Argumentationsmuster auf: So wird im „Normalisierungdiskurs“ eine Normalisierung des Verhältnisses der Deutschen zu „ihrer Nation“ behauptet. Das Argumentationsmuster des „positiven Patriotismus“ grenzt das neue Nationalgefühl, das sich während der WM ausdrückte, scharf von jeder Art von Nationalismus ab. In der Rede vom „unverkrampften“ oder „unverklemmten Patriotismus“ erscheinen patriotische Gefühle schließlich wie eine Art Naturtrieb, der sich aus Gründen der Psychohygiene früher oder später entladen muß. Nicht nur an den neuartigen Attributen, mit denen der Begriff „Patriotismus“ ausgeschmückt wurde, wird deutlich, wie sehr die Sprache der PR-Kampagnen in die WM-Berichterstattung überschwappte: So wurde zum Beispiel im Spiegel dem „mauernden“ Spiel der Reformverweigerer die neue Leichtigkeit der Nationalelf gegenübergestellt – eine Wendung, die fast wörtlich einer Anzeigenkampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft entnommen war. Nicht zufällig mache sich die Apologetik der sogenannten Reformpolitik an der Gestalt Jürgen Klinsmanns fest. Ein eigenes Kapitel, das dem Nationaltrainer gewidmet ist, zeigt wie innig Klinsmanns Corporate-Identity-Philosophie dem neoliberalen Denken verbunden ist. Im einem weiteren Kapitel mit dem Titel „Wo Männer noch Männer sind“, dekonstruiert die Autorin gekonnt WM-Geschlechter-Stereotype und erklärt, warum der Fußball-WM-Sieg der Frauen 2007 keine neue Patriotismus-Debatte entfacht. Ethnizität und Identität bilden am Beispiel von Jüdischer Allgemeiner und Hürriyet einen weiteren Themenschwerpunkt. Insgesamt eine scharfsinnige Analyse, die die massenpsychologische Wirkung der Medien facettenreich und spannend beschreibt und gleichzeitig darauf neugierig macht, ob ein nicht ganz so unwahrscheinlicher deutscher EM-Sieg ähnliche Zeitungsblüten treibt.

Dieter Hoch

Dagmar Schediwy: Sommermärchen im Blätterwald – die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse. Tectum Verlag April 2008, 19,90 €.

Kommentare

1 Kommentar zu “Rezension: „Sommermärchen im Blätterwald – die Fußball-WM 2006 im Spiegel der Presse“”

  1. Tanja Scholl am 06.28.08 15:36

    Und jetzt geht die Selbstbeweihräucherung schon wieder los. Plötzlich wird nach dem Spiel D-Türkei von einem “Sommermärchen der deutsch-türkischen Völkerverständigung” geschrieben. Ich wette unter diesem Label wird die EM auch in die Annalen der deutschen Medienberichterstattung eingehen. Dass es massive Übergriffe gegen türkische Läden gab (und zwar nicht nur im Osten) wird dagegen wieder kleingeredet.

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