On craint dégun!

von Jean-Claude

Heute soll der am seit 1. Oktober in einem Madrider Gefängnis einsitzende Olympique-Marseille-Anhänger Santos Mirasierra auf Kaution aus der Haft entlassen werden. Letzten Freitag hatte ihn ein Gericht der spanischen Hauptstadt in einem mehr als fragwürdigen Indizienprozess zu 3,5 Jahren Haft verurteilt. Es folgt ein kleines Lehrstück zu medialer Abbildung Konstruktion von Realität…

Beim Champions League Hinspiel zwischen Atlético Madrid und Olympique Marseille war die spanische Polizei in den Gästeblock eingedrungen, um ein angeblich verbotenes Banner der französischen Fans zu entfernen, auf dem ein Totenkopf mit Clownsmütze zu sehen ist. Eine mehr als fadenscheinige Begründung, gelten die Olympique-Anhänger doch als dezidiert anti-rassistisch und eher linkslastig. Dass die größte organisierte Fangruppierung der Heimmannschaft, „Frente Atlético“, seit Jahren den SS-Totenkopf als Fahnensymbol benutzt, stört die Guardia Civil dagegen offenbar nicht.

Die mehr oder minder offen mit dem spanischen Faschismus sympathisierenden Atlético-Ultràs bepöbelten beim Hinspiel dann auch mehrere schwarze Spieler von Olympique mit rassistischen Gesängen, während französische Medienvertreter afrikanischer Herkunft sich von ihren spanischen Kollegen beschimpfen lassen mussten. Im Gästeblock verprügelte die Polizei derweil die Gästefans. Die UEFA machte Atlético für die rassistischen Sprechgesänge und den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz verantwortlich und verhängte zunächst zwei Spiele Platzsperre, was zu einem Aufschrei der spanischen Sport- und Boulevardmedien führte, die sich als Opfer einer von UEFA- Präsident Michel Platini angeführten „French Connection“ wähnten. Die Strafe wurde später auf ein Spiel vor verschlossenen Türen reduziert.

Wohl auch, um die Auswärtsfans als die eigentlichen Übeltäter zu brandmarken und das Verhalten der eigenen Fans und der Polizei zu vertuschen, wurde nach dem Hinspiel einer der bekanntesten Vorsänger der Marseiller Ultràs als Einziger in Untersuchungshaft genommen. Am vergangenen Freitag statuierten die Richter nach über zwei Monaten Untersuchungshaft dann ein Exempel und verurteilten Santos zu 3,5 Jahren Haft, obwohl man ihm keine der ihm zur Last gelegten Taten konkret nachweisen konnte.

Vor dem gestrigen Rückspiel in Marseille lancierte die spanische Presse tagelang, es seien bei Atlético Morddrohungen – mal per Email, mal per SMS – gegen Offizielle und Fans des spanischen Clubs eingegangen. Medienwirksam verzichtete Atléticos Präsident daher auf das Auswärtskartenkontingent und stilisierte seinen Verein erneut zum eigentlichen Opfer. Derweil wurden sensationslüsterne Horrorszenarien genüsslich an die Wand gemalt und auch von deutschen Medien (bspw. hier, hier, und hier) begierig aufgegriffen.

Gestern Nachmittag wurde dann wundersamerweise bekannt gegeben, Santos komme trotz der hohen Haftstrafe und der offensichtlichen Fluchtgefahr gegen Kaution frei. Der Mohr hat seine Schuldigkeit für die madrilensiche PR-Maschinerie getan, der Mohr kann gehen. In Marseille trugen gestern Abend geschätzt zwei Drittel der 50.000 Zuschauer weiße „Liberez Santos!“-Leibchen und feierten ein 0:0, dass die Qualifikation für den UEFA Cup bedeutet. Von der vorher medial beschworenen Randale war indes nix zu sehen.

Es handelt sich geradezu um ein Lehrstück, wie die mediale Zuschreibung „Hooligans“ dazu führt, dass man sich nicht weiter mit einem Thema meint beschäftigen zu müssen, auch wenn die Widersprüche offen zu Tage liegen. Genüsslich käute man in deutschen Medien wieder, was die chauvinistische spanische Boulevardpresse als „Wahrheit“ anbot, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu fragen, wie glaubhaft und realitätsbezogen Geschichten ala „Morddrohungen per SMS“ sein mögen.

Eigene Recherche oder kritische Berichterstattung zu der unter Fußballfans in ganz Europa bekannten Brutalität der Guardia Civil, sowie des seit Jahren virulenten Rassismus in spanischen Stadien blieb dagegen eine absolute Fehlanzeige. Und das, obwohl europaweit (bspw. hier, hier, und hier), darunter auch in zahlreichen deutschen Stadien (bspw. hier, hier und hier) wochenlang die „Liberté pour Santos“-Banner hingen und man sich ganz offiziell bei Olympique hätte informieren können, da der Verein die Kampagne voll unterstütze. Präsident Pape Diouf sprach zwischenzeitlich sogar davon, man müsse Santos „aus den Klauen dessen entreißen, was ich noch nicht einmal wage, überhaupt als Justiz zu bezeichnen.“ Auch von prominenten Top-Stars wie Zidane, Drogba und Ribéry bekam Santos Unterstützung. Nichts davon interessierte jedoch die sonst hinter jedem Zitat und jeder „Hooligan“-Story hinterher hechelnden Journalisten-Kollegen. Auch eine Form von medialer Wahrheit.

Kommentare

8 Kommentare zu “On craint dégun!”

  1. Santos ist frei! « Brigata Amaranta Venticinque Aprile am 12.10.08 18:41

    […] sportswire gibt es einen ausgezeichneten Artikel über das verhalten der spanischen Fans, die […]

  2. MisterMadunina am 12.11.08 17:15

    Danke für diesen Lichtblick in der deutschen Medienwelt. Während die sogenannten Qualitätsmedien ja immer noch von “Rädelsführern” und “Gewaltexszessen” delirieren, hat sich hier endlich mal jemand die Mühe gemacht, nachzulesen, was eigentlich wirklich passiert ist. Wahrlich kein gutes Licht auf eine mitteleuropäische Polizei, Justiz und die vierte Säule der Demokratie – die Medien.

  3. Santos Mirasierra - Parodie de Justice! » Fussball » Italien blog am 12.11.08 18:40

    […] zu bezeichnen.” Löbliche Ausnahme in der tristen Berichterstattung zum Fall ist der Sportswire-Schreiber “Jean-Claude”, der in einem hervorragenden Beitrag den Fall aufgrei…. Ansonsten widmen sich nur Fußballfans in ganz Europa und Fußball Blogs dem Thema, […]

  4. NPD-BLOG.INFO » On craint dégun! am 12.11.08 21:39

    […] Ein Gastbeitrag von Jean Claude, in leicht geänderter Version auch veröffentlicht bei SportsWire. […]

  5. santos wieder frei … « am 12.12.08 12:46

    […] knusperflocken – gedanklich irgendwo zwischen fussball, politik und popkultur « liberte pour santos … santos wieder frei … Dezember 12, 2008 seit vorgestern abend ist santos wieder frei, in einem mehr als fragwürdigen verfahren wurde er zu 3,5 jahren verurteilt und gegen kaution aus dem gefängnis entlassen. da ich gestehen muss, dass ich in den letzten tagen wenig zeit  hatte mich mit dem thema zu beschäftigen, möchte ich allen leserInnen den sehr guten artikel von sportswire ans herz legen. (hier) […]

  6. Lesestoff « Der Ballkönig am 12.13.08 02:58

    […] Justiz On craint dégun! Heute soll der am seit 1. Oktober in einem Madrider Gefängnis einsitzende […]

  7. kraussblog » Blog Archive » marseille-madrid-knast-marseille am 12.21.08 18:47

    […] Eine wirklich sehr lesenswerte Geschichte hat Andrej Reisin in der Jungle World aufgeschrieben: Der französische Fußballfan Santos Mirasierra war in den letzten Monaten in Madrid inhaftiert, jetzt ist er auf Kaution frei und zurück in Frankreich. Die Hintergründe finden sich hier: Madrider Normalzustand. Ebenfalls ausführlich zum selben Fall auf Sportswire: On craint dégun! […]

  8. Englands Nationalelf: Kein Kick vor Rassisten : SportsWire am 12.28.08 02:26

    […] Freundschaftsspiel zwischen Spanien und England am 11. Februar 2009 wird, wie gewünscht, nicht im Bernabeu-Stadion stattfinden – das Madrider Publikum ist der FA zu […]

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