Marathon – Laufen im Schweiße des Angesichts

von Lukas Wieselberg und Michael Wassermair

490 Jahre vor unserer Zeitrechnung: Pheidippides läuft von Marathon nach Athen, verkündet den Sieg der Perser mit einem gequälten „Sei gegrüßt! Wir haben gesiegt!“ und fällt dann tot um. Warum der arme Mann kein Pferd genommen hat, ist bis heute ein Rätsel. Das Vorbild für den modernen Marathonlauf war aber geboren. Marathon als Metapher versinnbildlicht das Wesen des Sports und ist sein mythischer König. Er kann als alles das verstanden werden, was die herrschende ökonomische Vernunft übersteigt und sich doch gänzlich in dieser wiederfindet.

Insofern verfügt der Marathon über einen Doppelcharakter. Alles, was irgendwie zu lang und vernunftwidrig übliche Maßstäbe übersteigt, wird mit dem Attribut ‚Marathon‘ versehen: Marathontanzen, Rede-Marathon, Marathon-TV. Diesseits wie jenseits des Sports wird ein Phänomen beschrieben, das dem Sport als Prinzip inhärent ist: das Überschreiten von bis dato nicht Überschrittenem. Dieses der Vernunft scheinbar trotzende Element baut aber auf der selben Vernunft auf. Einen Marathon zu laufen, ohne eine im höchsten Maße vernünftige Einteilung von Kräften und Ressourcen, ist unvorstellbar, Auch das Lukrieren von Marathon-Profiten erfordert Marathon-Arbeitslose, die durch Marathon-Fernsehen bei Laune gehalten werden.

Der Schweiß steht ihnen ins Gesicht geschrieben, den Marathonläufern, nun sind sie endlich flüssig geworden. Völlig außer sich fließen sie in Strömen aus und hinterlassen Spuren auf dem heißen Asphalt. Sie treten aus sich heraus, laufen sich kilometerweit selbst hinterher, um dann ganz zu sich selbst zu kommen. Der Schweiß, Longdrink des Langstreckenlaufs, den es isotonisch zu nähren gilt, ändert das Bezugsverhältnis der Läufer zur Welt. Es ist dieses Perlen auf den Schultern, im Nacken, in den Haaren, überall. Plötzlich scheinen die Dinge wie geschmiert zu laufen: ein Gleitfilm, der den gesamten Körper einhüllt, ihn umgarnt, beschützt und verzärtelt. Wie die Tränenflüssigkeit des Auges, die vor all den Widrigkeiten der Luft Schutz gewähren will; ein Schutzfilm, der trennt und gleichzeitig verbindet. Läufer lösen sich via Schweißabsonderung in der Luft auf: es ändert sich ihr Aggregatzustand. Flüssig geworden treten sie in eine Welt ein, der sie entgegenzulaufen hoffen. Transpiration, Atmung, alle Dinge, die normalerweise vegetativ-automatisch ablaufen und die Verbindung mit der Welt erst ermöglichen, treten hier in das Bewußtsein. Der Läufer spürt die Luft, die seine Lungen wölbt, weil er sie benötigt, um die nächste Steigung zu überwinden. Er fühlt den Schweiß auf seiner Haut, der ihn wärmt und kühlt zugleich. Er schwitzt aus, was er auch einatmet: seine Körperlichkeit.

Nicht nur Aggregatszustände können sich ändern, sondern auch “Identitäten”. Ab einem gewissen Zeitpunkt ändern sich beim Laufen Bewußtseinszustände, verschieben sich “Identitäten” unabhängig davon, ob man das den Endorphinen im Blut zuschreibt oder dieser gewissen meditativen, sich monoton wiederholenden Praxis des Laufens. Da kommt es schon einmal vor, daß Läufer neben sich selber stehen bzw. laufen und sich wundern über das eigene Glück, den eigenen Schmerz. Aber letztlich ist das Laufen in seinem Bewegungsablauf auch als Metapher zu verstehen: zwar hebt man dabei immer wieder vom Erdboden ab, ist kurzzeitig also in der Luft, wenn man so will “bodenlos”, jedoch wird dieser kurze Moment immer gefolgt von einem Auf-tritt, einer Wieder-verortung des Selbsts. Laufen ist, so betrachtet, eine beiläufige Seinsweise: beim Laufen ist man Schritt für Schritt, die Bewegung, die man vertritt. Es gibt keinen Punkt, an dem der Läufer festgemacht werden kann. Die Position, die er bezieht, ist immer schon eine bezogene. Er kann jetzt gar nicht verharren, im Sein, im Schein oder auch nur am Stand, er ist nur insofern, als sich kein korrelierender Fixpunkt zuordnen läßt, als er immer schon wieder weg ist.

Laufen „erfüllt“ in zweifacher Hinsicht: erstens im Ziel, zweitens nach dem Ziel, wenn die Läufer ganz anders wieder “zu sich” kommen. Das beste Bild für diese “zweite Erfüllung” ist die Dusche, die als Reinigungsanstalt vom Produkt der Anstrengung, dem Schweiß, befreit. Vielleicht ist das erlösende Duschen überhaupt der Höhepunkt der laufenden Betätigung. Der kathartische Akt sowie das “ozeanische” Gefühl, um dann langsam wieder in den gewohnten Lauf der Dinge und den normalen Gang des Alltags zurückzukehren. Mit dem Schweiß wird auch der Ausnahmezustand, über den der Sport verfügt, abgewaschen, und es kann wieder in den parfümierten Anzug der bürgerlichen Existenz geschlüpft werden.

Jede Form des Selbstlaufs in einem fremd gewordenen Weltlauf ist ein Mythos: Die Welt nicht mehr vertreten in irgendeiner Statthalterrolle oder als Variable X in einem abgekarteten und immer vorbestimmten Spiel, sondern die Welt ertreten, den eigenen Schritt zum Maßstab für den Lauf der Welt verwenden, selbst die Legende drunterschreiben mit den eigenen Symbolen, das ist die Ideologie des Laufs. Und daher rührt die vermeintliche „Einheit“ mit der Welt: Während der Läufer über den Schweiß eine unmittelbar physische Verbundenheit verspürt, während er über seinen Auf-tritt den Bezug zur Oberfläche der Welt herstellt und dabei dennoch stets in Frage stellt, verdichten sich die Phantasmen seines Geistes zu einer kindisch schamlosen Selbstgewißheit.

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