Kraule wie ein Fisch!

von Martin Krauss

Der amerikanische Schwimmtrainers Terry Laughlin hat ein für deutsche Ohren etwas sperrig und fremd klingendes Konzept entwickelt: Total Immersion, wörtlich übersetzt völliges Eintauchen und etwas freier ins Deutsche übertragen: Schwimmen wie die Fische. Laughlin kümmert sich kaum um Ausdauertraining, setzt sehr konsequent auf Technikverbesserung und hat dafür ein ganzheitliches Konzept entwickelt, das jedem hilft: Weltklasseschwimmern ebenso wie Menschen, die in höherem Alter doch noch mal das Kraulen lernen wollen.

Eine physikalische Tatsache wird zum psychologischen Problem. Einerseits kann der Mensch im Wasser eigentlich nicht untergehen: Auftrieb und Archimedisches Prinzip sorgen dafür, und der Mensch kann es nur aushebeln, wenn er sich sehr dumm anstellt und völlig falsche Bewegungen ausführt. Andererseits aber hat Terry Laughlin eine Beobachtung gemacht. »Für die meisten von uns kommt der erste Schwimmversuch einer Nahtoderfahrung mit einer realen Chance zu ertrinken gleich«, schreibt der amerikanische Schwimmtrainer in einem neuen Buch. »Und später wird es auch nicht viel besser: Obwohl Schwimmen eine wichtige, in manchen Situationen sogar lebensrettende Fähigkeit ist, wurde Schwimmen noch nie korrekt unterrichtet.« Laughlin beklagt, dass man heutzutage nicht lerne, sich im Wasser wie ein Fisch zu bewegen, sondern dass bestenfalls eine sehr kraftraubende Fähigkeit vermittelt werde, nicht unterzugehen. Auf dieser Grundlage hat Laughlin die Theorie der »Total Immersion« entwickelt, des vollständigen Eintauchens, sehr frei übersetzt kann man auch sagen: des Schwimmens nach Art der Fische.

Zwei Forschungsergebnisse haben Laughlin stutzig gemacht. Zum einen hat man heraus­gefunden, dass Weltklasseschwimmer ihre Leistung zu 70 Prozent ihrer guten Technik und nur zu 30 Prozent ihrer Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit verdanken – obwohl im Trainingsalltag gerade die Kondition im Vordergrund steht. Zum zweiten hat das Zentrum für aquatische Forschung in Colarodo Springs herausgefunden, »dass die schnellsten Schwimmer generell weniger Vortriebskraft aufwenden als weniger gute Schwimmer«, wie der Forscher Rick Sharp erläutert. »Zwar wären auch sie in der Lage, mehr Vortriebskraft zu erzeugen, aber sie brauchen es nicht zu tun, um schnell zu sein.«

Was gute Schwimmer zu guten Schwimmern macht, ist also ihre Fähigkeit, dem Wasserwiderstand auszuweichen, also gut im Wasser zu liegen. Und weil das so ist, hat Terry Laughlin sein Konzept der »Total Immersion« entwickelt. Das ist mehr als nur die Orientierung des Trainingsalltags auf mehr Techniktraining. Laughlin richtet sich gleichermaßen an Schwimmanfänger wie an Weltklasseschwimmer. Was er an technischem Wissen und Spaß an der Bewegung im Wasser vermittelt, ist für 15jährige gleichermaßen interessant wie für über 70jährige, die ihr motorisches Lernalter schon längst hinter sich gelassen haben. Der Kopf wird bei »Total Immersion« fast vollständig unter Wasser gedrückt, denn so kann der Wasserauftrieb genutzt werden. Die Hüft- und Beckenmuskulatur ist besonders wichtig, denn hier sitzt mehr Kraft als in den Extremitäten. Dazu kommt, dass der Armzug nicht besonders kräftig sein soll, sondern eigentlich gar nicht mehr stattfindet: Hatten Schwimmtrainer früher gelehrt, der Arm solle in Form eines großen S gezogen werden, erklärt Laughlin nun, man solle sich die Hand als Anker vorstellen, die vor dem Körper einsticht und an der man sich im Grunde vorwärts zieht – unterstützend zu eigentlichen Vorwärtsbewegung.

Was Laughlin entwickelt hat und lehrt, ist besonders hilfreich für alle Hobbyschwimmer, die sich gerne im Wasser aufhalten, aber nicht oder nur rudimentär kraulen können. Während in den meisten Ländern dieser Erde Kraulen die erste Schwimmart ist, die Kindern gelehrt wird, dominiert in Deutschland noch aus den Zeiten, als die Schwimmausbildung in den Händen des preußischen Militärs lag, das Brustschwimmen. Es zeichnete sich dadurch aus, dass der Kopf ruhig in der Schultermitte liegen musste und nicht einmal mit dem Gesicht ins Wasser eintauchen durfte. Die Offiziere hatten sich keine Fische zum Vorbild genommen, sondern Frösche – und so sah das auch aus: Mit gespreizten Beinen sollte sich der Soldat quasi vom Wasser abstoßen. »Kriech-« oder »Froschstoß« nannte sich die Übung.

Der deutsche Sporttheoretiker Carl Diem schrieb noch 1920, dass der Kriechstoß »die schnellste aller Schwimmarten« sei. Das war damals zwar schon längst widerlegt, aber es war ja vor allem eine Glaubenssache. »Wenn dem Bruststil auch der Vorwurf gemacht werden kann, dass seine Bewegungen künstlich und gekünstelt sind, dass sie sich von Grund aus unterscheiden von den Bewegungen, mit denen Naturmenschen und Tiere schwimmen«, heißt es in einem Text aus den späten zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, »so muss dieser Vorwurf doch zurücktreten hinter der Tatsache, dass der Bruststil hohe, gesundheitliche Werte für Körperhaltung und Körperdurchbildung ausweist, dass die Atemführung in ihm leicht ist und vor allem, dass er die Schwimmschüler nicht so sehr anstrengt wie etwa der Handüberhandstil.«

Man hätte es damals schon anders wissen können. 1897 führte der ungarische Weltklasseschwimmer Arpad Bieglbauer in Deutschland modernes Kraulschwimmen vor: eine harmonische Abwechslung beim Armzug. Beim Beinschlag orientierte sich Bieglbauer aber, wie viele Europäer damals, noch am Brustschwimmen. Neun Jahre später, 1906, kam die erste richtig große Sensation aus Übersee: Da demonstrierte der australische Weltklasseschwimmer Cecil Healy in Hamburg den Deutschen das, was man damals Crawlen nannte. Zwar kamen bei ihm seine Unterschenkel noch beinah vollständig aus dem Wasser, aber die gegen ihn antretenden deutschen Brustschwimmexperten hängte Healy alle ab.

Die nächste Revolution des Kraulschwimmens kam aus Hawaii: Paoa Duke Kahanamoku gewann 1912 in Stockholm bei den Olympischen Spielen den 100-Meter-Wettbewerb – mit dem Schwung aus der Hüfte und mit dem ganzen Bein. Kahanamoku zeigte eine einfache und sehr effektive Form des Kraulens, die alles revolutionierte. Im Grunde war Kahanamoku schon sehr nah an dem dran, was heutzutage, 100 Jahre später, Terry Laughlin lehrt.

Doch nach Kahanamoku kamen gesellschaftliche Veränderungen, die sich auch auf die Art des Schwimmens auswirkten. Gerade mit dem Kraulbeinschlag wurde experimentiert: Johnny Weissmuller, der legendäre Schwimmer der zwanziger Jahre und erste »Tarzan«-Darsteller, schwamm mit einer so genannten Sechser-­Koordination: auf einen vollständigen Armzug (einer links, einer rechts) kommen sechs Beinschläge (drei links, drei rechts). Andere machten Vierer- oder Zweier-Beinschlag, und all diesen Konzepten lag die Vorstellung zugrunde, dass der Beinschlag eine autonome Antriebsquelle fürs Schwimmen sei – ähnlich wie in der damals ihren Siegeszug antretenden fordistischen Fabrikorganisation jeder Prozess parzelliert wurde.

Die biomechanische Forschung verfeinerte die Kenntnis über die Schwimmtechniken, die Auftriebskräfte und den Wasserwiderstand immer mehr und schuf die Grundlage für die Weltklasse­leistungen, die bei großen Meetings immer zu bestaunen sind. Hinzu kamen die Ergebnisse der Trainingslehre, die sich auch erst seit den zwanziger Jahren entwickelte. Ein Johnny Weissmuller etwa trainierte mit Hilfsmitteln wie Brettern aus Weichholz, später Styropor, mit denen er sich ganz auf den Beinschlag konzentrieren konnte. Eine typische Trainingseinheit bei Weissmuller sah so aus: 500 Yards Kraul-Beinschlag (Brett in den Händen), 500 Yards Kraul-Armzug (Brett zwischen den Beinen), 500 Yards Kraul. So zu trainieren, war beinah ein Spiegelbild der Fabrikorganisation des Taylorismus.

Mit der Krise des Fordismus ist auch dieses Sport- und Trainingsverständnis in die Krise geraten. Terry Laughlin schreibt: »Konventionelles Schwimmtraining konzentriert sich auf den Armzug, den Beinschlag und darauf, sich mit roher Kraft über endlose Längen durchs Wasser zu pflügen, um die erforderliche Konditionen aufzubauen, damit man schließlich geduldig noch mehr Trainingskilometer abspulen kann.«

Hier zeigt sich das besonders Innovative von Laughlins »Total Immersion«. Es ist ein ganzheitliches Konzept, das Kraulen zu lehren und zu betreiben, bei dem es darum geht, einen flüssigeren Schwimmstil zu erreichen. »Fitness«, so kritisiert Laughlin den zentralen Inhalt bisherigen Trainings, »ist etwas, das sich einstellt, während man die richtige Technik einübt.«

Hinweise zu dem Konzept finden sich:

http://www.totalimmersion.net/

http://total-immersion.ch/d/

Terry Laughlin/John Delves: Total Immersion. Schwimmen nach Art der Fische. Bielefeld 2010, Covadonga-Verlag, 330 Seiten, 14,80 Euro, näheres hier.

Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitung Jungle World, Nr. 15 vom 15. April 2010

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