Tom Bartels konnte sich als Kommentator des Auswärtsspiels von Werder Bremen in St. Etienne am Mittwoch Abend kaum mehr beruhigen: Als der mitgereiste Bremer Anhang es wagte, das 1:0 seiner Mannschaft im Auswärtsblock mit bengalischen Fackeln zu feiern, geriet das Geschehen auf dem Rasen auch vor dem Mikrofon zusehends in den Hintergrund.

Gemeinsam ereiferten sich Journalisten und Werder-Funktionäre über „unverbesserliche Idioten“ und „schlimme Szenen“, die das „Ansehen von Werder Bremen und dem deutschen Fußball“ schwer beschädigten.

Die BILD-Zeitung titelte „Skandal-Spiel“ und bot „Randalierer“-Fotos, die keine Randale zeigen. Als eine Woche zuvor Galatasaray Istanbul beim Hamburger SV gastierte, genoss man dagegen die farbenfrohe türkische Begeisterung (man beachte die BU von Bild 11: “Die türkischen Fans feiern das 1:0 mit bengalischen Feuern”) und beim Rückspiel am Bosporus war wie immer die Rede von der „besonderen Stimmung“, auch wenn Reporter Thomas Wark angesichts der Verdammung der Bremer Fans am Abend zuvor pflichtschuldigst daran erinnerte, dass bengalische Feuer zwar „schön aussehen, aber auch gefährlich sind“.

HSV-Fans machen beim Heimspiel gegen Cottbus ihrem Ärger über die Berichterstattung Luft. (Copyright: Chosen Few HH)

HSV-Fans machen beim Heimspiel gegen Cottbus ihrem Ärger über die
Berichterstattung Luft: (Copyright: Chosen Few HH)

In der Woche zuvor war UEFA-Präsident Michel Platini höchstpersönlich zu Gast in Athen, um sich das Champions League-Spiel zwischen Panathinaikos und dem FC Villarreal anzuschauen. Zu Beginn veranstalteten die griechischen Fans vor seinen Augen eine Pyro-Show, die den Eindruck erweckte, das halbe Stadion gehe gleich in Flammen auf. Die Premiere-Reporter sinnierten derweil zusammen mit Experte Franz Beckenbauer über die tolle Stimmung. Sollte sich Werder Bremen daher nicht eher über Ungleichbehandlung beschweren, anstatt nun vollmundig anzukündigen, man werde die Fans auch finanziell zur Verantwortung ziehen? Und wofür eigentlich? Noch ist überhaupt nichts über eine mögliche Geldstrafe der UEFA und deren Höhe bekannt. Stattdessen wird weiter spekuliert.

Bei vielen Medien und Verantwortlichen herrscht jedenfalls eine unerträgliche Doppelmoral: Natürlich ist pyrotechnisches Material gefährlich und es gibt gute Gründe gegen das Entzünden in Menschenmengen. Dies gilt allerdings nicht minder für die Silvesternacht, wie die Ultras Frankfurt kürzlich nicht ganz zu Unrecht anmerkten. Auch einen weiteren Punkt sprechen die Eintracht-Fans an: Bis weit in die Neunziger Jahre hinein waren Bengalos in deutschen Stadien völlig normal. Bilder vom sprichwörtlich “brennenden Betze” in Kaiserslautern oder einer in leuchtende Fackeln getauchten Dortmunder Südtribüne gehörten selbstverständlich dazu.

Mit dem Verbot jeglichen pyrotechnischen Materials wird dieses nun illegal ins Stadion gebracht und gezündet. Dass dazu eher Leute bereit sind, die auch sonst nichts Gutes im Schilde führen, kommt leider nicht eben überraschend. So beklagt auch die für ihr antirassistisches Engagement bekannte Bremer Ultrà-Gruppierung Racaille Verte auf ihrer Webseite, dass in Saint Etienne eine Leuchtkugel offenbar gezielt auf gegnerische Fans abgeschossen wurde. Auch die Bremer “Wanderers” distanzieren sich vom Abschuss der Leuchtrakete. Viele Fanszenen befinden sich hier in einem Dilemma: Einerseits erinnert man sich an alte Zeiten und will sich das Zündeln nicht komplett verbieten lassen, andererseits bringen gezielte Schüsse auf den Rasen oder gegnerische Fans auch die kleinste Wunderkerze endgültig in totalen Misskredit.

Warum deutsche Fans, die dergleichen in Stadien anzünden allerdings ausnahmslos Hooligans sein sollen, während man medial gleichzeitig anderswo „begeisterungsfähige Südländer“ feiert, erschließt sich wohl nur moralisierenden Journalisten und fragwürdigen Funktionären mit doppelten Standards und merkwürdigen Klischees im Kopf.

Kommentare

9 Kommentare zu “Klischeefeuerwerk der Doppelmoralisten”

  1. mkorsakov am 03.20.09 19:28

    Passend dazu hat sich die waz mal wieder nicht entblödet, ihr vollständig nicht vorhandenes Wissen über die Fanszenen (Ultra` im besonderen) zeilenbreit kundzutun.

  2. Fubafan am 03.20.09 21:42

    Wieder einmal sind die sog. Ultras auffällig geworden. Anscheinend haben es einige dieser Ultra-Gruppierungen (z.B. Frankfurt und Nürnberg) immer wieder nötig auf sich aufmerksam zu machen. Denn immer wieder beweisen diese sog. Ultras, die sich als eine Art Elite unter den Fußballfans begreifen, eindrucksvoll um was es ihnen eigentlich geht. Nämlich gar nicht mehr um den Verein und um Fußball, sondern um sich selbst, um eigene Selbstdarstellung und um die Selbstdarstellung der Fan-Subkultur der Ultras.

    Der Verein und der Fußball ist schon lange nicht mehr Zweck, sondern nur noch Mittel zum Zweck der Ultras. Zweck ist die eigene Selbstdarstellung. Das ist gefährlich, weil es sich um das gleiche psychologische Muster handelt wie bei Hooligans, die sich ebenfalls zu wichtig nehmen und das eigene übersteigerte Geltungsbedürfnis befriedigen wollen, nach dem Motto “Wir sind die stärksten, berüchtigtsten usw.”.
    Vom Ultra zum Hooligan/Krawallmacher ist es gar nicht weit, in manchen Szenen (insbes. in Frankfurt und Nürnberg) ist die Grenze nämlich schon heute gar nicht mehr auszumachen.

    Wenn man sich in den (Ultra-)Foren mal umschaut, dann bekommt man bei vielen User-Beiträgen (Selbstbeweihräucherung und Effekthascherei ohne Ende!) den Eindruck, dass das ganze Selbstwertgefühl eines Ultras davon abhängt wie der “Support” oder die letzte Choreo war oder wie das von den gegnerischen Ultras beurteilt wird. Diesen Leuten geht es ganz bestimmt nicht um den Fußball und auch nicht um den eigenen Verein, sondern um sich selbst, um Selbstdarstellung und darum das eigne Ego aufzupolieren wie bei der berühmten (individualpsychologisch äußerst bedenklichen!) Frage danach (“Wie war ich?”), fanspezifisch umzuformulieren in “Wie waren wir, waren wir besser als die gegnerischen Fans/Ultras, hinsichtlich “Support”, Choreo, Bengalos usw..
    Mag sein, dass diese Ultras in ihrer selber fabrizierten Traumwelt so jene Geltung finden, die anderswo nicht finden.

    Kurzum: Die Fan-Subkultur Ultras (selbst nichts anderes als eine Fan-Modeerscheinung!), bzw. deren Mitglieder haben in ganz großen Teilen nicht nur ein übersteigertes Geltungsbedürfnis, sie sind auch Langweiler, die von ihrem eitlen Ich und ihrer vermeintlichen Wichtigkeit berauscht sind.

  3. Andrej Reisin am 03.20.09 22:06

    @fubafan:
    Deine /Ihre Sichtweise auf die Ultrà-Bewegung als solche ist nicht gerade extrem differenziert, oder? 😉 Auf jeden Fall ist es ein großes Thema, das sicherlich eine längere Diskussion wert ist. Fakt ist aber, dass es in den 90ern kaum Ultras in deutschen Stadien gab, aber jede Menge pyrotechnisches Material. Von daher reicht Ihre Erinnerung an Fankulturen da nicht sehr lange zurück. Ich denke daher vor allem, die beiden Themen überschneiden sich zwar, die Gleichung Feuerwerk = Ultras ist aber viel zu einfach und historisch fasch. Polemik hilft nicht weiter, das kann man ja an den seitens der genannten Massenmedien praktizierten doppelten Standards ganz gut ablesen.

  4. Feuer frei…not! » Fussball » Italien blog am 03.22.09 11:35

    […] Reisin von Sportswire nimmt sich in seinem Beitrag “Klischeefeuerwerk der Doppelmoralisten” eines meiner Lieblingsthemen an…und wenn das Thema “Medienschelte” heisst, […]

  5. Komische Sichtweisen « Dortmund, Dortmund! Große Stadt, mein Traum! am 03.23.09 10:50

    […] Und wie ich so durchs Netz surfe, entdecke ich einen Blogeintrag bei den Kollegen von SportsWire, die im Großen und Ganzen genau das schreiben, was auch mir im Kopf […]

  6. Daniel am 03.23.09 15:43

    Ich hab gar kein Problem mit Pyros im Stadion, SOLANGE diese im Fanblock bleiben! Das Problem ist doch nicht, das reine Abbrennen, sondern das Werfen dieser Feuer auf den Rasen!

    Übrigens knallen Bengalos auch nicht derartig, wie in St. Etienne geschehen. Da war also noch eine ganze Menge mehr am Werk…

    Ich bin der Letzte, der die komplette Verbannung von Pyrotechnik aus dem Stadion im Sinn hat. Das Problem ist aber – wie immer – dass es unter den normalen ein paar Voll-Idioten gibt, denen es nicht reicht, ein Feuer abzubrennen.

  7. Andrej Reisin am 03.23.09 17:02

    @Daniel:
    Ja, klar, aber leider gehen die Unterschiede zwischen bengalischem Feuer, Böllern und Leuchtkugeln ja in einem einzigen medialen Brei unter. Würde man Pyrotechnik in welchem Umfang auch immer erlauben, so heißt es, käme es massiv zu unkontrollierbaren Gefahren und Schwerverletzten, weil sich die Unkontrollierbarkeit multiplizieren würde.

    Frühere Erfahrungen zeigen, dass dem nicht zwangsläufig so sein muss und dass es vor allem darauf ankommt, wie gut die soziale Kontrolle im Block funktioniert. Ich denke eher, dass die Idioten immer mehr werden, je illegaler der ganze Quatsch abläuft. Momentan heißt praktisch jede Pyrotechnik = 3 Jahre Stadionverbot. Theoretisch würde dies selbst für die Wunderkerzen gelten, die ja bspw. am Hamburger Millerntor noch hier und da zum Einsatz kommen.

    Da ist es imho vorprogrammiert, dass dieses Risiko eher Leute auf sich nehmen werden, denen leider auch vieles andere scheißegal ist. Laut den organisierten Bremer Gruppen soll es sich bei den Leuchtkugel-Heinis ja auch um Außenstehende bzw. Trittbrettfahrer gehandelt haben.

  8. Mathias am 03.25.09 15:31

    @mkorsakov

    Man muss den Artikel von derwesten.de nicht toll finden, aber natürlich weiß Stefan Reinke, wovon er redet. Inhaltlich dürfte der Artikel zudem auch wenige Fehler beinhalten, und die Zielrichtung ist natürlich eine ganz andere. Nämlich einer breiten Öffentlichkeit näher zu erläutern, was Ultras sind und was sie machen.

  9. Seb am 03.25.09 19:06

    Ist doch klar, dass die Ultras immer kritischer und radikaler werden. Von den Medien werden sie nur ins schlechte Licht gerückt (z.B. Pyro) und die Kunden kaufen den Medien alles ab (siehe Fubafan), ohne nur ein bischen Ahnung zu haben.
    Der nächste Grund ist das Verhalten der Polizei, häufig gibt es Repression und völlig übertriebene Einsätze, nichtmal mehr vor kollektivstrafen wird halt gemacht…. dabei fehlt jegliche Kommunikation. Ich nenn nur mal kurz 3 Vorfälle aus den letzten 2 Wochen. (1)Beim Spiel Bielefeld-Wolfsburg wird auf den WoB Mob eingeprügelt, nachdem 1 Fan über eine rote Ampel gegangen ist (und ein 16 jähriger musste Blutüberströmt ins Krankenhaus)(2) beim Spiel Stuttgart-BvB geraten Dortmunder Stadionverbotler, die aufgrund ihrer Situation nur schlichten wollten mit einem Wirt aneinander, alle werden verhaftet und alle Dortmunder die herbeieilten um zu helfen wurden angeschrien, mit Knüppeln attackiert und über 100 Personen mussten die Personalien abgeben (3) Karlsuher Ultras wurden vor ihrem Heimspiel bei ihrem traditionellen Marsch zum Stadion in einem Waldstück regelrecht von der Polizei überfallen und mussten komplett ihre Personalien abgeben.
    Hinzu kommen sinnlose Aktion wie Stadionverbote für das kleben eines Aufklebers…. Der Hammer ist noch, dass das Stadionverbot meist bestehen bleibt, obwohl keinerlei Schuld bewiesen werden kann.
    Ich könnte noch dutzende Geschichten erzählen, aber davon bekommt ja keiner was mit, es steht ja nicht in den Medien

    (schaut mal auf fansmedia.org)

    und zu den Internetultraforen, da sind nur Poser und Möchtgern, die man nicht ernst nehmen sollte. Alle öffentlichen foren werden komplett boykottiert

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