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Das Ergebnis einer vor acht Jahren durchgeführten Untersuchung der norwegischen Sporthochschule war alarmierend: Jeder fünfte Leistungssportler des Landes litt demnach an Esstörungen.
Überraschend war das Ergebnis dagegen nicht: Bereits 1992 wurde in den USA festgestellt, dass 60 Prozent der im Turnen und Eiskunstlauf Aktiven unter Magersucht und/oder zwanghaftem Erbrechen leiden.
Welche Folgen haben Esstörungen bei Sportlern und wie können sie bekämpft werden?
In der Folge hatten prominente ehemalige Turnerinnen wie Kathy Johnson und Nadia Comaneci zugegeben, während ihrer aktiven Zeit an Anorexie gelitten zu haben. Konsequenzen wurden von Trainern, Managern und Funktionären daraus jedoch nicht gezogen, auch nicht, als im Jahr 1994 die US-Turnerin Christy Henrich starb. Sie hatte sechs Jahre lang an Esstörungen gelitten, nachdem ihr ein Wettkampfrichter erklärt hatte, um in die Weltspitze zu gelangen, müsse sie drastisch an Gewicht verlieren. Am 26. Juli 1994 starb Christy Henrich im Alter von 22 Jahren an auf Anorexie zurückzuführendem multiplem Organausfall.
Die deutsche Eskunstläuferin Eva-Maria Pfitze sollte ein paar Jahre später sagen: “Meine Trainerin hat mir öfters gesagt, dass ich abnehmen soll, wenn ich Erfolg haben will. Das sei nötig, weil Eiskunstlaufen nun mal eine ästhetische Sportart sei.”
Wie ihr ergeht es bis heute Ballett-Tänzerinnen, Kampfsportlern, Jockeys und Langstrecken-Läuferinnen.
Zunächst relativ unbemerkt, erst als mit dem anorexiekranken deutschen Weltklasse-Ruderers Barne Raabe am 2. August 2001 ein männlicher Sportstar starb, gerieten Esstörungen, weil nunmehr männlich besetzt, kurzfristig in die Schlagzeilen. Eine Fernsehdokumentation zeigte eindrucksvoll die Hilflosigkeit seiner Trainer und Mannschaftskollegen angesichts des Magersüchtigen – er habe ihn bei einer Grillparty regelrecht zwingen wollen, eine Wurst zu essen, erinnerte sich beispielsweise ein Coach, der bis heute anscheinend nicht verstanden hat, dass Essgestörte über ein breites Repertoire an Tricks verfügen und sehr wohl in der Lage sind, ungewolltes Essen wieder loszuwerden.
Dünnsein zählte trotzdem in vielen Sportarten weiterhin zu den unbedingten A-Skills: Sven Hannawald, erklärten begeisterte Sportreporter lange Zeit während seiner aktiven Karriere gern, sei auch deswegen ein so guter Skispringer, weil er das ideale Gewicht habe.
Erste Zweifel traten auf, als Bilder des Athleten in Badehose veröffentlicht wurden, die im Großen und Ganzen einen skelettierten jungen Mann zeigten. Die Mannschaftsleitung reagierte umgehend – und stellte sich nicht etwa der Diskussion, sondern kündigte an, es werde keine Fotos der Stars in leichter Bekleidung mehr geben. Hannawald selber, dessen Karriere mittlerweile beendet ist, erklärte zusätzlich, er sei halt von Natur aus immer schon sehr schlank gewesen.
Solche halbgare Erklärungsversuche beeindruckten in Norwegen jedoch niemanden: Als Reaktion auf die damalige Untersuchung vereinbarten die Sportuniversität und das NOK das Landes, neue Regularien zu entwickeln. 7000 Sportler, Trainer, Funktionäre und weiteres Betreunungspersonal wurden kontinuierlich zum Thema Ernährung befragt, wobei die Coaches laut Professorin Jorunn Sundgot-Borgen aufgrund der Resultate nicht nur mit verstärkten Kontrollen, sondern auch mit zukünftigen strengen Strafen rechnen müssen: “Jeder, der Sportler zum gezielten Hungern anhält, wird zunächst verwarnt. Wird keine Verhaltensänderung festgestellt, wird der Betreffende schlicht und einfach gefeuert!”
Wie viele Trainer ins Visier geraten sind, wollte die Wissenschaftlerin nicht sagen, stellte aber nachdrücklich fest: “Wir kennen aber zum Beispiel einen, der seinen Schutzbefohlenen, minderjährigen Mädchen, erklärte, nur die Dünnsten hätten bei ihm eine Chance, in den A-Kader zu kommen, denn die seien diejenigen, die immer auch die besten seien”.
Die Trainer sollen künftig in Gewichtsfragen einfach nicht mehr mitreden dürfen, so Sundgot-Borgen weiter: “Ganz allein der Sportler soll darüber entscheiden, ob er sein Gewicht reduzieren soll. Falls er es wirlich möchte, dann soll ihm nicht der Trainer, sondern qualifiziertes Personal aus dem medizinischen bzw. ernährungsphysiologischen Bereich dabei helfen. Diesen Leuten sollte es auch einzig überlassen sein, jemanden zu wiegen und Schlüsse daraus zu ziehen.”
Esstörungen bei Athleten seien übrigens schon lange nicht mehr auf die Sportarten beschränkt, in denen Menschen traditionell sehr dünn sein müssen, um überhaupt Spitzenleistungen erzielen zu können. Auch abseits vom Turnen, Skispringen, Langstreckenrennen und der Rythmischen Sportgymnastik seien Eßstörungen nichts Ungewöhnliches. “Viele taten bislang immer so, als ginge sie das Problem nichts an, das war wohl in sehr bequemes Ruhekissen, vor allem für die Ballsportler, dabei kommt es in so gut wie jeder Sportart zu Anorexie und Bulimie – dies zu erkennen ist schon mal ein guter Anfang!”
Der norwegische Psychiater Finn Skårderud beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit dem Thema Essstörungen, auch im Leistungsssport. Grundsätzlich habe sich das Körpergefühl geändert, sagt er: “Der Körper ist für die Produktionsgesellschaft nicht mehr so wichtig. Was er kann und wie er aussieht ist im Arbeitszusammenhang kein großes Thema mehr – heute hat der Körper Aufgaben mit eher symbolhaftem Charakter, er soll das Selbstbild transportieren und wird entsprechend geformt.”
Denn “in unserer unruhigen Zeit ist der Körper die Konstante, das einzige, das uns bleibt, der Zusammenhang zwischen dem Äußeren und dem Selbstbewußtsein wird dadurch gesteigert”.
Die Gesellschaft sei zudem “sehr stark zukunftsorientiert, das ist aszinierend, aber auch sehr unsicher – wir können uns einloggen und mit der ganzen Welt Kontakt aufnehmen, laufen aber Gefahr, den Kontakt mit uns selbst zu verlieren
Der Körper wird von unserem Wunsch, ihn zu kontrollieren, leicht überlastet
Statistiken zeigen, dass jede dritte Sportlerin, die eine Sportart mit sehr hohen ästhetischen Idealen ausübt, an Essstörungen leidet.” Es folgen Ausdauersportarten, erst danach rangieren Ballsportarten und weitere Übungen.
“Fünf Prozent der Gesmtbevölkerung leiden an Essstörungen, dieser Wert ist bei Leistungssportlern jedoch signifikant höher”, sagt Skårderud und erklärt weiter:
“Wenn man ein Leben führt, in dem man den eigenen Trainer viel öfter sieht als die Eltern und der Freundeskreis ausschließlich aus hochmotivierten Sportlern besteht, wie soll man dann wissen, was normal ist und was nicht?”
Sport und Ernährungsstörungen seien eng miteinander verwandt, “in beiden Fällen geht es um Körperfixierung, das Überschreiten von Grenzen und Selbstkontrolle. Wobei unter Sportlern besonders viele Mythen rund um das Essen kursieren, unter anderem die völlig falsche Vorstellung, dass es die Lestung stark verbessert, wenn man abnimmt – dabei schafft es kaum jemand mit Esstörungen tatsächlich an die Spitze”.
Die angestrebten Höchstleistungen seien durch gezielte Gewichtsabnahme sehr wohl kurzfristig zu erreichen, erklärt Finn Skårderud weiter. Die verbesserte Leistungsfähigkeit, die durch den Verlust von einem oder zwei Kilogramm eintrete, führe dann jedoch oft zu massiven Essstörungen, da der Sportler glaube, jedes abgenommene Gramm werde sich auch weiterhin in größeren Weiten oder besseren Zeiten niederschlagen.
Dabei sei das exakte Gegenteil der Fall: Die Strapazen, die essgestörte Menschen ihrem Körper zumuten, schließen dauerhafte Höchstleistungen schlicht aus: Durch das Hungern kommt es zu Schwankungen im Elektrolyte-Haushalt, die zu Herzrythmusstörungen und sogar zum Herzstillstand führen können. Die Mangelernährung bedingt darüber hinaus auch die Entkalkung der Knochen, wie sie im Alter durch Osteoperose entsteht. Stressbrüche sind dabei besonders unter anorektischen oder bulimischen Sportlern nicht selten, besonders gefährdet sind der Oberschenkelhalsknochen, die Unterarme und die Wirbel.
Auch die psychischen Folgen einer Essstörung sind nicht zu unterschätzen: Depressive Verarbeitungsstörungen, Antriebsarmut, Leistungsverlust und Schlafstörungen können eintreten.