Hinter Salchow Zweite

von Elke Wittich

In ihren Bewegungen wurde sie von schweren viktorianischen Röcken massiv beeinträchtigt, von den Männern wurde sie ob ihrer Sportlichkeit nicht bewundern, sondern schief angesehen: Madge Syers musste sich die Teilnahme an Wettkämpfen erst erstreiten und wurde erste britische Meisterin im Herreneiskunstlauf.
Eine Erinnerung an eine Pionierin auf Kufen.

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Sehr lange hatten sich die Gründerväter des 1892 ins Leben gerufenen internationalen Eiskunstlaufverbandes – der International Skating Union (ISU) – nicht an ihren 1897 verabschiedeten Statuten freuen dürfen: Knapp fünf Jahre später mussten sie hilflos zusehen, wie eine Frau aufgrund ungenauer Formulierungen bei der eigentlich nur für Männer vorgesehenen ersten Eiskunstlaufweltmeisterschaft ihr Startrecht erkämpfte – und dann auch noch äusserst souverän den zweiten Platz belegte.

Florence Madeleine «Madge» Syers und der britische Verband, die National Skating Association (NSA), hatten im Vorfeld der Wettkämpfe in London herausgefunden, dass in der ISU-Wettbewerbsordnung nirgends festgehalten worden war, dass Frauen bei den Wettkämpfen kein Startrecht hätten – und beharrten mangels anderer Eiskunstläuferinnen auf Syers Teilnahme an der Männerkonkurrenz.

Die Vehemenz, mit der die NSA für das Startrecht der Sportlerin kämpfte, kam zwar vielleicht nicht von ungefähr – Madges Ehemann Edgar Morris Wood Syers, mit dem sie auch an Paarlaufkonkurrenzen teilnahm, war Generalsekretär des Verbandes -, aber die Veranstaltung endete gleichwohl mit einer Sensation.
Syers wurde hinter dem Schweden Ulrich Salchow Zweite. Und hätte womöglich sogar den Sieg verdient, wie nicht nur das lokalpatriotische Publikum fand, sondern neben einigen Experten anscheinend auch der Gewinner: Empört darüber, dass seiner Konkurrentin kein Preis zugeteilt worden war, überreichte er ihr kurz entschlossen und sehr demonstrativ seine Trophäe.

Vielleicht hatte der Sportsmann Salchow auch erkannt, mit welchen Widrigkeiten Madge Syers kämpfen musste. Frauen wurden damals explizit vor dem Eiskunstlaufen gewarnt – vor allem von Medizinern und Sportfunktionären, die wohl hofften, so die Sportart als strikt männlichen Zirkel aufrechterhalten zu können.

Selbst eine Frau, die wie Madge Syers von ihrem sportbegeisterten Mann zum Figurenkringeln auf dem Eis ermutigt wurde, hatte auf keinen Fall die gleichen Chancen wie ihre männlichen Kollegen: Sie musste sich schliesslich auch beim Sporttreiben an die viktorianische Kleiderordnung halten und in schweren Wollkleidern und Unterröcken antreten, die Bewegungen massiv erschwerten.

Dabei war der von Syers gepflegte Eiskunstlaufstil, bis auf die fehlenden Sprünge, dem heutigen schon sehr ähnlich. Ein US-Amerikaner hatte ein Vierteljahrhundert zuvor dafür gesorgt, dass der steife «british style», bei dem es darum ging, in Vierergruppen die strikten Anordnungen eines Schiedsrichters auszuführen, durch individuelle, auf Musik abgestimmte Vorführungen ersetzt wurde.
Jackson Haynes, der die so genannte Wiener Schule entwickelte, hatte Frau und Kinder im Jahr 1864 in den USA zurückgelassen und war allein nach Europa gezogen, wo er sich mit grosser Begeisterung den schönen Künsten, vor allem dem Walzertanzen und dem Ballett widmete. Und rasch seine Liebe zum Eiskunstlauf entdeckte. In der Folge versuchte Haynes, seine Steckenpferde miteinander zu verbinden. Er veranstaltete öffentliche Vorführungen, wobei er sich selber als Schauspieler sah, der eben auf dem Eis anstatt auf einer Bühne Stücke aufführte.

Für seine Vorstellungen zog er sich sogar, für die damalige Zeit unerhört, Frauenkleider an, das Publikum war von der neuen Sportart begeistert. S
ein früher Tod – Haynes starb 1875 im Alter von 31 Jahren im finnischen Gamla Karleby an den Folgen einer Lungenentzündung – verhinderte den Siegeszug des neuen Eiskunstlaufens nicht mehr: Ulrich Salchow und Axel Paulsen, nach denen jeweils Sprünge benannt sind, wurden zu bejubelten Stars.
Mit einem eigentlich uralten Sportgerät: Die ersten Schlittschuhe wurden wahrscheinlich schon vor 4000 Jahren benutzt, wie skandinavische Höhlenmalereien belegen. Im Jahr 1190 schrieb der Mönch William Fitzstephan in einer lateinischen Schrift, dass «die jungen Männer auf dem Eis spielen», wenn die Moore rings um die Stadtmauern von London zugefroren seien. «Manche binden sich Tierknochen um die Füsse und schieben sich mit einem Stock vorwärts, sie gleiten so mühelos dahin, wie ein Vogel fliegt.»

1772 erschien in Grossbritannien dann das erste Buch über das Eiskunstlaufen.
Der Leutnant Robert Jones von der Royal Artillery beschrieb in seiner «Abhandlung über das Skating – begründet auf vielen Jahren praktischer Erfahrung» verschiedene Figuren wie Kreise und Achten – und zeigte sich als für diese Epoche ungewöhnlich aufgeschlossener Mann.
Frauen war es damals schlichtweg verboten, zum Spass auf Kufenschuhen übers Eis zu glitschen, was Jones nicht nachvollziehen konnte: «Es gibt», notierte er, «eigentlich keinen Grund, warum die Ladys von diesem Vergnügen ausgeschlossen werden.»

Erst recht nicht dann, wenn sie ihre Männer vor dem Ertrinken retten: Der britische Königingemahl Prinz Albert galt beispielsweise als tollkühner Schlittschuhläufer – was beinahe zum Ende der Windsor-Linie geführt hätte.
Knapp ein Jahr nach der Hochzeit mit Queen Victoria – das Paar hatte damals noch keine Kinder – hätte er seine Leidenschaft beinahe mit dem Leben bezahlt. Am 9. Februar 1841 war Albert auf einem zugefrorenen See beim Buckingham-Palast Schlittschuh laufen gegangen, seine ihn begleitende Ehefrau notierte später in ihrem Tagebuch:

«Das Eis brach, und Albert war bis zum Kopf im eiskalten Wasser, einen kurzen Moment lang sogar ganz versunken. In meiner Todesangst stiess ich einen Schrei aus und streckte den Arm nach ihm aus. Mein geliebter Albert schaffte es, sich an ihm festzuhalten und sich auf sicheren Grund hochzuziehen.»

Madge Syers blieben grössere Unfälle dagegen erspart. Ein Jahr nach dem Gewinn des Vizeweltmeistertitels trat sie noch einmal gegen ausschliesslich männliche Konkurrenz an und wurde erste britische Meisterin im Herreneiskunstlauf. 1904, bei den Europameisterschaften in Davos, hatte sie dagegen Pech: Nach dem Pflichtprogramm auf einem aussichtsreichen vierten Platz liegend, konnte sie aufgrund einer Verletzung nicht mehr zur Kür antreten.

Weitere Chancen, die Männer zu schlagen, sollte Madge Syers nicht mehr erhalten: Der internationale Eiskunstlaufverband hatte genug und änderte kurzerhand die Regeln. Ab 1906 wurden eigenständige Damenwettbewerbe veranstaltet, zwei Jahre hintereinander wurde die Engländerin Weltmeisterin.
Und 1908 konnte sie bei den Olympischen Winterspielen in London die Goldmedaille in Empfang nehmen. Dabei handelte es sich zwar streng genommen um ein nahtlos von den Sommerspielen in eine ausgesprochen herbstliche Veranstaltung übergehendes Ereignis, das am 27. April begonnen hatte.
Vom 19. bis zum 31. Oktober wurde bei den Winter Games um Medaillen in den Sportarten Boxen, Lacrosse, Hockey, Fussball und Rugby gekämpft – aber Syers und die anderen EiskunstläuferInnen hatten Glück. Die Duchess of Bedford war ein glühender Fan der Sportart und forderte ihren Mann auf, die künstliche Eisbahn des Prince’s Skating Club im Stadtteil Knightsbridge für die Olympischen Spiele zur Verfügung zu stellen. Der Herzog, immerhin Vorsitzender des exklusiven Klubs, willigte ein, und knapp zwanzig EiskunstläuferInnen kämpften am 23. und 24. Oktober auf der 62 mal 12 Meter grossen Fläche in vier Wettbewerben um Medaillen.

Madge Syers gewann die Damenkonkurrenz klar vor der Deutschen Elsa Rendschmidt und der Britin Dorothy Greenhough-Smith, im Paarlauf belegte sie gemeinsam mit ihrem Mann den Bronzerang. Kurz darauf beendete die nunmehr 27-Jährige ihre Eislaufkarriere.
Syers verlegte sich auf andere Sportarten, im Reiten und Schwimmen war sie so erfolgreich, dass sie mehrere Preise gewann. Wegen einer Herzerkrankung musste sie ihre Sportlaufbahn jedoch beenden. Im September 1917 erlag die Eiskunstlaufpionierin diesem Leiden.

Während die Eiskunstläuferinnen nach ihr die Sportart zum Publikumsmagneten machten, sollte es übrigens noch sehr lange dauern, bis die erste Frau in einem der nationalen Verbände ein Funktionärsamt übernehmen konnte: Erst im Juli 1939 wurde die Engländerin Mollie Phillips, immerhin Teilnehmerin an Olympischen Spielen, offiziell in den britischen Verband berufen.
1953 durfte sie erstmals als Punktrichterin über A- und B-Noten mitentscheiden. Phillips war wohl besonders geeignet, in die Männerdomäne einzubrechen: Sie bekleidete zuvor schon als erste Frau in ihrem nordwalisischen Heimatort Carmarthenshire das Amt des High Sheriffs.

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