Gralshüter mit Augenmaß

von Alex Feuerherdt

Vor 145 Jahren wurden in einer Londoner Kneipe erstmals verbindliche Fußballregeln festgelegt. Seitdem entscheidet ein kleines Gremium über ihre Weiterentwicklung.

Wer weiß, wie der Fußball heute aussähe, wenn es nicht die Freemasons’ Tavern gegeben hätte. In diesem Pub in der Londoner Great Queen Street nämlich trafen sich am 26. Ok­tober 1863 Vertreter von zwölf Clubs aus der britischen Hauptstadt, um nachgerade Revolutionäres zu beschließen: zum einen die Gründung des ersten Fußballverbands der Welt, der Football Association (FA), und zum anderen ein einheitliches Regelwerk, das das Nebeneinander verschiedener Auslegungen beenden sollte.

Einer der bei der Versammlung anwesenden Vereine, Blackheath, weigerte sich zwar, das Verbot des Tretens gegen die Schienbeine des Gegners zu akzeptieren, und wurde später Gründungsmitglied der Rugby Football Union. Die elf anderen einigten sich jedoch und schrieben unter dem Vorsitz von Ebenezer Cobb Morley 14 Regeln nieder.

Drei Jahre später wurde das International Football Association Board (Ifab) ins Leben gerufen, das bis heute über die Spielregeln wacht und für deren Modifikationen verantwortlich ist. Dem Ifab gehören neben dem englischen auch der nordirische, der walisische und der schottische Fußballverband an. Seit 1913 nimmt zudem die Fifa an den Konferenzen des Gremiums teil, auf denen jedes Frühjahr über mögliche Regeländerungen entschieden wird.

Vier Wochen vor dieser Zusammenkunft müssen die Fußballverbände ihre Änderungsvorschläge schriftlich beim Sekretär des Dachverbandes einreichen. Die Fifa leitet sie anschließend zur Prüfung an die anderen Verbände weiter; für ihre Annahme ist seit jeher eine Dreiviertelmehrheit erforderlich. Dadurch sind Eingriffe ins Regelwerk gar nicht so einfach; dennoch wurden die Bestimmungen für den Ablauf eines Fußballspiels seit dem historischen Treffen in der Freemasons’ Tavern immer wieder verändert.

Das gilt vor allem für die ersten Jahre, etwa im Hinblick auf die Abseitsregel. Ursprünglich stand ein Angreifer im Abseits, wenn er sich zum Zeitpunkt des Zuspiels vor dem Ball befand. Das führte dazu, dass die Mannschaften zuweilen mit acht Stürmern antraten; schließlich blieben nur Dribblings oder Zweikämpfe, wenn man den Ball nach vorne treiben wollte. 1866 wurde deshalb die »Drei-Spieler-Regel« verabschiedet: Nun stand ein Angreifer nur noch dann im Abseits, wenn er sich näher an der Torlinie befand als der Ball und drei Gegenspieler. Erst jetzt konnte sich das Passspiel entwickeln.

Eine weitere einschneidende Maßnahme war die Einführung des Schiedsrichters, wie man ihn heute kennt. Jahrelang waren Streitigkeiten gemäß dem viktorianischen Selbstverständnis in Gentleman-Manier von den Kapitänen der beiden Mannschaften bereinigt worden. Doch je mehr auf dem Spiel stand, desto lauter wurden die Beschwerden.

Es gab seit 1874 zwar einen »Referee« – dem man vier Jahre später auch eine Trillerpfeife in die Hand drückte – und darüber hinaus zwei von den Mannschaften gestellte Unterschiedsrichter (»Umpires«). Doch deren Befugnisse beschränkten sich darauf, an der Seitenlinie zu stehen, die Zeit zu nehmen und in Zweifelsfällen zu schlichten. Das änderte sich 1891. Von nun an gab es eine Person, die die Möglichkeit hatte, ohne vorherige Rücksprache Spieler vom Feld zu schicken und Freistöße zu verhängen. Die ehemaligen Unterschiedsrichter verwandelten sich in Linienrichter.

Gleichzeitig wurde der Strafstoß, »Kick of Death« (»Todesschuss«) genannt, ins Regelwerk aufgenommen: Die ursprüngliche Annahme, dass ein Gentleman niemals absichtlich ein Foul beging, hatte sich einfach nicht länger aufrechterhalten lassen. Diesen Strafstoß führte der Schütze jedoch zunächst nicht an einer festen Markierung aus, sondern an einem beliebigen Punkt entlang einer Linie in elf Metern Torentfernung. Erst 1902 wurden der Strafraum, der Torraum und der Elfmeterpunkt eingeführt.

Als sich der Fußball nach der Jahrhundertwende auch außerhalb Großbritanniens steigender Popularität erfreute, sorgte die Fifa nach ihrer Gründung im Jahre 1904 dafür, dass das Regelwerk allmählich weltweit übernommen wurde. Auf dem Spielfeld stieg die Anzahl der Tore, begünstigt beispielsweise durch die 1912 eingeführte Regel, die dem Torhüter das Handspiel außerhalb des Strafraums untersagte, und durch den 1920 getroffenen Beschluss des Ifab, das Abseits nach einem Einwurf aufzuheben. 1925 änderte man zudem die »Drei-Spieler-Regel« beim Abseits in eine »Zwei-Spieler-Regel«; das Spiel wurde dadurch noch schneller.

Ende der dreißiger Jahre war schließlich der Zeitpunkt gekommen, die seit mehr als 50 Jahren immer wieder modifizierten und ergänzten Fußballregeln einer grundlegenden Überarbeitung zu unterziehen. Diese Aufgabe fiel Stanley Rous zu, einem Mitglied des Ifab, der auch die diagonale Aufstellung der Schiedsrichter entwickelt hatte. Er sollte das Regelwerk modernisieren und die einzelnen Regeln in eine logische Reihenfolge bringen. Der Engländer, der 1961 Fifa-Präsident wurde, leistete dabei ganze Arbeit: Die nächste Erneuerung der Spielregeln musste erst 1997 vorgenommen werden, und selbst dann ging es nur um stilistische Fragen bei ihrer Formulierung.

Das Ifab gilt vielen zwar als eher konservativ; dennoch reagierte das Gremium regelmäßig auf Entwicklungen im Fußball, die seiner Attraktivität zu schaden drohten. Als beispielsweise Ende der achtziger Jahre immer mehr Mannschaften unansehnlich defensiv spielten, wurde eine ganze Reihe von Veränderungen beschlossen, die unter dem Motto »For the good of the game« (»Zum Wohle des Spiels«) standen und dem Offensivfußball auf die Sprünge helfen sollten. So wurde 1990 die »gleiche Höhe« beim Abseits abgeschafft; zudem musste nun die Verhinderung einer klaren Torchance mit unfairen Mitteln – die »Notbremse« – zwingend mit einem Platzverweis geahndet werden. Zwei Jahre später verbot man den Torhütern, einen mit dem Fuß gespielten, absichtlichen Rückpass mit den Händen aufzunehmen.

Jenseits dieser markanten Entscheidungen ist das Ifab allerdings auch für seine bisweilen etwas praxisferne Regelungswut bekannt. So darf beispielsweise ein Spieler, der an der Seitenlinie zur Einwechslung bereit steht, keinen Einwurf ausführen, ohne vorher wenigstens einen Schritt auf den Platz getan zu haben. Und warum sich ein Mannschaftskapitän, der den Münzwurf vor dem Anpfiff gewinnt, nicht mehr zwischen den Alternativen Anstoß oder Seitenwahl entscheiden kann, sondern nur noch letztgenannte bestimmen darf, erschließt sich ebenfalls nicht recht. Seit der letzten Saison haben außerdem die Linkshänder unter den Schiedsrichter-Assistenten ein Problem: »Bei einer Abseitsanzeige hebt der Assistent die Fahne mit der rechten Hand«, heißt es jetzt ausdrücklich in den Regeln. Die Begründung – »damit er einen besseren Blick auf das Spielfeld hat« – ist dabei schlicht unsinnig.

Doch den Regelwächtern seien solche kleinen Boshaftigkeiten gestattet, solange sie im Grundsatz ihr Credo beibehalten: »Die Attraktivität des Fußballs liegt in seiner Einfachheit. Und als Hüter der Regeln versucht das Ifab so gut wie möglich, die Wurzeln zu bewahren, aus denen der Sport so spektakulär aufgeblüht ist.« Es hat gewiss schon Konservative mit weniger Augenmaß gegeben.

Zuerst erschienen in der Jungle World.

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