Sep
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Alles, was als so genannter Rasensport gilt, ist ab dem Herbst in Wirklichkeit oft genug nur Matschsport.
Denn alles, was sich draußen befindet, kann von der jeweils vorherrschenden Witterung beeinflusst werden – und wird es natürlich auch immer genau dann, wenn’s am unpassendsten ist. Seit der Erfindung des Kunstrasens ist jedoch immerhin Schluß mit Plätzen voller Matschlöcher oder knochentrockener Erdhügel – jedenfalls dort, wo das künstliche Gras ausgelegt wurde.
Eine Geschichte des Kunstrasens.
Begonnen hatte alles mit einer Studie der US-amerikanischen Ford Foundation Ende der fünfziger Jahre, in der die körperliche Fitness junger Amerikaner untersucht wurde. Mit einem eindeutigen Ergebnis: Die Landbevölkerung erwies sich als fitter und aktiver als die Bewohner großer Städte.
Als Folge der Studie setzten sich Politiker und Wissenschaftler für eine Föderung des Schulsports ein. Die bei den Schülern besonders beliebten Mannschaftssportarten wie Hockey, Baseball und Fußball taugten jedoch kaum für die schuleigenen Turnhallen, so dass die Alternative entweder lautete, ab dem Herbst auf andere Sportarten umzusteigen oder einen witterungsbeständigen Außenbelag zu erfinden.
Chemstrand, eine Tochterfirma des auf die Entwicklung von Agrokultur/Biotech-Produkten spezialisierten Unternehmens Monsanto Industries, begann, von der Studie angeregt, Anfang der sechziger Jahre mit der Entwicklung synthetischer Fasern für einen Kunstrasenteppich. 1964 wurde das fertige Produkt von Creative Products, dem Entwicklerteam von Chemstrand, als erster Kunstrasen vorgestellt und unter Alltagsbedingungen erprobt. Auf dem Sportgelände der Moses-Brown-Schule in Providence auf Rhode Island wurden während der Testphase umfangreiche Versuche angestellt. Das Produkt wurde unter anderem auf Brennbarkeit, Witterungsbeständigkeit, Wasserabfluss sowie medizinische Aspekte wie Verschleiß und Auswirkungen auf die menschlichen Gelenke untersucht.
1967 wurde dem »Chemgrass« schließlich unter dem Titel »U.S. patent #3332828« das Patent erteilt. Allerdings sollte das Produkt nicht lange so heißen, denn nachdem es zum ersten Mal eingesetzt worden war – im Baseballstadion Houston Astrodome –, wollte der Hersteller die gewaltige Resonanz auf den neuen Bodenbelag und die folgende Publicity ausnutzen und benannte die Marke in »AstroTurf« um.
Die meisten Sportverbände und erst recht die Athleten waren jedoch zunächst sehr skeptisch. Schließlich veränderte der Bodenbelag durchaus die Sportart, die auf ihm ausgeübt wurde. Im Baseball etwa führt Kunstrasen dazu, dass der Ball nicht nur schneller fliegt, sondern auch eine deutlich höhere Flugbahn beschreibt.
Und das Zeug, das von Vince Lombardo einmal »fusseliger Zement« genannt wurde, führte insbesondere in den ersten Jahren seiner Verwendung zu ernsten Verletzungen. Die Stollen der Spielerschuhe konnten etwa in dem harten, künstlichen Gebilde hängenbleiben, Resultat ist dann häufig der unter Sportmedizinern so genannte »Turf toe«, ein durch einen Kapselriss am Basisgelenk stark schmerzender großer Zeh. Aber auch schwere Abschürfungen bis hin zu Verbrennungen waren auf den ersten Kunstrasenplätzen keine Seltenheit.
Erst 1975, als die kanadische McGill University das erste internationale Hockey-Turnier auf Kunstrasen austrug, begann man ernsthaft, sich auch mit den Vorteilen des grünen Plastikzeugs zu beschäftigen. Was im Hockey dazu führte, dass der plastikgrüne Untergrund mittlerweile bei großen Begegnungen in dieser Sportart vom Verband zwingend vorgeschrieben ist.
Im Fußball sollte es dagegen etwas länger dauern. Die Amateure stehen zwar Wochenende für Wochenende auf den stadteigenen Kunstrasenplätzen – die sich als bei weitem nicht so pflegeintensiv, viel dauerhafter und daher langfristig als kostengünstiger erwiesen haben als Anlagen mit richtigem Gras –, aber Profis spielen dort nach wie vor nur ganz selten. Damit könnte aber schon bald Schluss sein: Die Fifa setzte im Jahr 2003 den Kunstrasen erstmals offiziell in einer Endrunde bei der U17-WM in Finnland ein.
Im gleichen Jahr startete die Uefa ein Kunstrasen-Projekt, das zunächst die Installation des Grasteppichs in sechs europäischen Stadien vorsah. »Es ist nicht bombastisch zu sagen, dass wir die Zukunft gestalten«, sagte Jacob Erel, Leiter der Uefa-Wettbewerbsabwicklung, auf einer Fachtagung medizinischen und technischen Fachleuten, die an den Verbands-Studien zum Thema Kunstrasen teilnahmen, »Entscheidungen, die von der Uefa getroffen werden könnten, werden entscheidenden Einfluss auf den Fußball nehmen.« Weiter meint er: »Da wir die Anwendung von Kunstrasen auf höchstem Niveau in Betracht ziehen, müssen alle Aspekte stimmen, damit diese Rasenform von der Fußballfamilie und den besten Profiligen akzeptiert wird.« Es müsse jedoch auch zugegeben werden, dass »viele Leute aufgrund schlechter Erfahrungen mit den Vorläufern dieser Rasenform« in der Vergangenheit Bedenken gegenüber dem unechten Gras gehabt hätten.
Den Clubs von Almelo (Niederlande), Denisli (Türkei), Dunfermline (Schottland), Moskau (Russland) Örebro (Schweden) und Salzburg (Österreich) wurde jeweils ein Betrag von 195 000 Euro versprochen, für ihre Mithilfe bei Studien zur Biomechanik, vor allem über die »medizinischen und fußballbezogenen Aspekte«, also das Verletzungsrisiko sowie das Verhalten des Balls beim Rollen und Abfedern im Vergleich zu traditionellem Rasen.
Medizinisch, so viel steht mittlerweile fest, gibt es keine Bedenken mehr gegen den Einsatz der Plastikhalme. Uefa-Vizepräsident Professor Jan Ekstrand erklärte Anfang des Jahres: »Wir haben genügend Informationen, die besagen, dass das Verletzungsrisiko nicht zunimmt. Es ist sogar etwas geringer. Es gibt also keinen medizinischen Einwand gegen das Spiel auf Kunstrasen. Die Spieler lieben ihn jedoch nicht besonders.«
Hoffnungen der Kunstrasen-Hersteller auf ein internationales Spitzenturnier, das durchgängig auf künstlichem Belag gespielt wird, erfüllten sich jedoch trotz der bislang positiven Testergebnisse nicht. Uefa-Generaldirektor Lars-Christer Olsson erklärte erst im Frühjahr 2005, dass nach dem momentanen Stand der Dinge die Endrunde der Fußball-Europameisterschaft 2012 auf Rasenplätzen ausgetragen wird. Kurz zuvor hatte der europäische Verband bekannt gegeben, dass ab sofort in seinen Wettbewerben auf Kunstrasen gespielt werden dürfe, vorausgesetzt, der Belag erfüllt die von der Uefa vorgegebenen Qualitätskriterien.
Bei einer Europa-Meisterschaft sei es dagegen aus Wettbewerbsgründen ausgeschlossen, so Olsson, zwischen zwei Platzbelägen hin- und herzuwechseln. »Bei einer Endrunde wie der Europa-Meisterschaft ist es meiner Meinung nach wichtig, sich auf eine einheitliche Platzart zu einigen. Somit muss man nicht von Natur- zu Kunstrasen springen«, sagte er. Kunstrasen werde wohl erst dann verwendet, »wenn er sich in Zukunft als der bessere Belag erweist«.
Bis dahin müssen sich Spieler und Zuschauer halt damit abfinden, dass der Rasen eben manchmal eher einem Schlammloch ähnelt. Und dass der Ball dann halt zwar noch immer rund, aber eben durchaus auch matschbraun ist