Die Pfiffe gegen die Marseillaise werden längst nicht mehr nur als Pfiffe gegen eine Hymne gesehen. Vor allem rechte Poiltiker versuchen, unter anderem mit rassistischen Sprüchen und regelrechten Kampagnen gegen Einwanderer Kapital aus den Geschehnissen zu ziehen.
Der ehemalige Fußballstar Michel Platini gehört zu denjenigen, die sich darum bemühten, die erhitzte Debatte abzukühlen. Pfiffe, so sagte er unter anderem, gehörten zum Fußball schließlich dazu.

Möglicherweise war die Intention, die Bernard Laporte verfolgte, nicht bewusst rassistisch.
Die Wirkung war es jedoch, zumal zur selben Zeit eine Kampagne durch die Leserbriefseiten von Zeitungen und die Internetforen tobte und deren Tenor großenteils lautete: „Wenn es ihnen hier nicht gefällt, dann sollen sie doch endlich gehen!“ Na, dann geht doch nach drüben, ’rüber über das Mittelmeer…
Ein Gefühlsausbruch, den der am rechten Rand der französischen Konservativen stehende Abgeordnete Lionnel Luca auf der politische Bühne in Worte fasste: Diese Leute „sollten die Koffer packen und in ihre Herkunftsländer zurückkehren“.
Dass der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen seinerseits wetterte, es handele sich um „Nur-auf-dem-Papier-Franzosen“ und der Zwischenfall zeige „das Scheitern der Integration von Massen von Menschen, die unserer Kultur fremd sind“, verstand sich ohnehin quasi von selbst. Aber auch an der Basis schienen manche Leute sich zu Aktivität angespornt.
In den letzten Tagen meldete sich etwa ein Gärtner nordafrikanischer Herkunft bei einer Antirassismusorganisation, den jemand mit den Worten angemacht hatte: „Na, hast Du auch gepfiffen?“ – um daraufhin zu versuchen, ihn mit dem Auto zu überfahren. Der Betreffende war gar nicht im Stade de France gewesen.
Das böse Spiel zu beruhigen versuchte Michel Platini, der frühere Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft, jetzt Chef des Europäischen Fußballverbands UEFA. In einem ausführlichen Interview mit der liberalen Pariser Abendzeitung Le Monde erklärte er die aufgeregten Reaktionen für Quatsch: „Vor 30 Jahren, als ich selbst in der Nationalmannschaft spielte, wurde die Marseillaise auf allen Spielfeldern ausgepfiffen. Aber damals interessierten sich die Politiker nicht für Fußball, und das schockierte niemanden. Aber heute ist es fast eine Pflicht für die Politiker geworden, sich je nach Couleur zu positionieren.“
Platini verwahrte sich gegen die Einmischung der Politik, die darin bestehe, den Sportverbänden vorzuschreiben, wann sie ein Spiel abzubrechen hätten: Darüber entscheide immer noch der zuständige Verband oder der Schiedsrichter.
„Und was ist, wenn ein Match in Azerbaidschan stattfindet und dort gepfiffen wird? Fahren die Spieler dann unverrichteter Dinge sofort nach Hause?“ Er fügte hinzu, er selbst habe die Marseillaise – obwohl er sie „die schönst Hymne der Welt“ finde – noch nie vor einem Spiel gesungen: „Ich habe mich nie dazu entschließen können, denn es ist ein kriegerischer Gesang. Und Fußball ist ein Spiel, kein Krieg. Aux armes, citoyens! (Zu den Waffen, Bürger!): Ich schaffte es nicht, diese Worte vor einer Begegnung zu singen. (…) Aber heute sind wir in einer Welt der totalen Kommunikation: Wenn ein unglücklicher Spieler die Hymne nicht singt, wird er sofort stigmatisiert.“
Durch diese Worte versuchte Michel Platini die Polemik abzukühlen, die in den folgenden Tagen auch abzuklingen begann, da die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Wirtschaftskrise stärker in Bann gezogen war.
UMP-Sprecher Frédéric Lefebvre hatte dem französischen Ex-Trainer unterdessen in harschen Worten geantwortet: Die UEFA habe eine verdammte „Verantwortung dafür, die Voraussetzung für Respekt in den Stadien zu schaffen“. Und der Fußball solle sich doch mal Fragen stellen. Nur bei diesem Sport gebe es „Gewalt, Pfiffe und Beleidigungen auf den Rängen“ der Zuschauer.
80 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen erklärten sich, laut einer Umfrage für die Boulevardzeitung Le Parisien, „schockiert“ über die Pfiffe. Unter ihnen 46 Prozent „sehr schockiert“. (Nur 15 % sollen die gegenteilige Auffassung vertreten.) Allerdings sind die Ansichten demnach, vertraut man den Ergebnissen, je nach Altersgruppen unterschiedlich verteilt. Eine Aufschlüsselung nach Generationen belegt demnach, dass „nur“ 62 Prozent der Generation unter 30 Jahren, aber 86 Prozent der über 50jährigen allergisch auf die Pfiffe reagieren. (Vgl. http://www.rmc.fr/edito/sport/62339/80pour-cent-des-francais-choques-par-les-sifflets-contre-la-marseillaise/)
Viele kritische Beobachter und Medien betrachten die jüngste Polemik als eine geplante Kampagne: Schon im Vorfeld habe man sich im Umfeld Sarkozys und der konservativen Regierung Gedanken gemacht, wie man das – erwartete – Ereignis für eine nationalistische Mobilmachung nutzen könne.
In Zeiten der Wirtschaftskrise, in denen Präsident Sarkozy den schützenden starken Mann und starken Staat in den Vordergrund zu rücken versucht, sei dies besonders recht gekommen. So behauptet die Vereinigung „Memorial 98“ – die 1998 zum einhundertsten Jahrestag der Dreyfus-Affäre entstand und den Antisemitismus sowie Rassismus bekämpft -, eine entsprechende Kampagne sei durch Patrick Buisson konzipiert worden. Buisson ist ein enger Berater Sarkozys, war früher Redakteur bei der rechtsextremen Wochenzeitung Minute, und gilt als Erfinder des im Vorjahr neu eingerichteten „Ministeriums für Einwanderung und nationale Identität“. Er ist „der Mann, der die Wählers Le Pens für Sarkozy umwirbt“.
Ob die Reaktionen auf die Pfiffe allerdings tatsächlich vorprogrammiert waren, lässt sich nicht in Wirklichkeit nicht beweisen.
Sicher ist es nicht.
Fest steht hingegen, dass im Nachhinein eine regelrechte Kampagne daraus entwickelt wurde. Die rechte Studentenorganisation UNI, die historisch irgendwo zwischen Sarkozy und Le Pen steht, heute aber die Regierung unterstützt, lässt jetzt 100.000 Plakate und 1.000 T-Shirts mit einem Slogan zur Kampagne drucken: „Franzose, und stolz darauf“.
Er bezieht sich auf die Pfiffe. Allerdings hätte der Anlass fast beliebig sein können.

Teil Eins der dreiteiligen Serie findet sich http://www.sportswire.de/2008/10/frankreich-hymne-sport-und-politik-teil-1-wie-alles-begann/, Teil zwei dort

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