Pfiffe gegen die französische Nationalhymne sind verboten. Und führen zum Spielabbruch.
Wie kam es zu dieser Entscheidung von Präsident Sarkozy, wie sind die Reaktionen von Politikern, Fußball-Funktionären und Fans und welche Probleme könnten bei der Umsetzung auftreten?
SportsWire präsentiert eine dreiteilige Hintergrundgeschichte über die Hymne und den Fußball, Teil Eins beschäftigt sich mit den Ursachen für Sarkozys Erlass.

Ein mögliches Szenario

Kaum sind die letzten Klänge der Nationalhymne und die sie begleitenden Pfiffe verklungen, überschlagen sich die Ereignisse in dem riesigen Stadion. Der Abpfiff erklingt, noch bevor das mit quasi elektrischer Spannung erwartete Fubballmatch beginnen konnte. Per Lautsprecher werden die rund 40.000 Menschen im Stadtion aufgefordert, sich unverzüglich zu den Ausgängen zu begeben.
Es kommt zu tumultartigen Szenen. Die Polizei muss eingreifen, um der Lage Herr zu werden, und entsendet Tausende von uniformierten Beamten in das und rund um das Stadion. Die Fernsehkameras senden spektakuläre Bilder in die Haushalte, als die erste Tränengasgranate in der Nähe einer dicht gedrängten und ihrem Unmut lautstark Luft machenden Menge explodiert. An den Ausgängen finden heftige Reibereien statt, als die Polizeikräfte aus Pulks heraus Einzelne festzunehmen versuchen, die sie auf den Videoaufnahmen der zahlreichen im Stadion postierten Kameras als „Störer“ erkannt haben will.

Werden die Fernsehzuschauer bei Spielen, an denen die französische Fußball-Nationalmannschaft teilnimmt, in naher Zukunft zu Zeugen solch dramatischer Ereignisse werden?
Es wird sich in Bälde erweisen müssen.

Die Gründe – und was bisher geschah

Die Voraussetzungen dafür scheinen jedenfalls geschaffen, denn Präsident Nicolas Sarkozy höchstpersönlich hat es angeordnet: Jedes Spiel, bei dem die französische Nationalhymne – La Marseillaise mit ihren eher kriegerischen Klängen, die dereinst für die französische Rheinarmee verfasst wurden, während die junge Republik um 1792 im Krieg mit den Monarchien halb Europas lag – ausgepfiffen oder gestört wird, muss abgebrochen werden. Das heibt in der Regel, es muss aufhören, noch bevor es begonnen hat.
Durch seine Ankündigung reagierte Sarkozy auf die jüngsten Ereignisse am Rande des Freundschaftsspiels Frankreich-Tunesien, das am 14. Oktober im Stade de France (alias Le Grand Stade) im Pariser Vorort Saint-Denis stattfand.
Es war nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass ein Fußball-Länderspiel unter Beteiligung der Bleus damit beginnt, dass die Marseillaise Pfiffe erntet. Schon vor Jahren wurden solche Zwischenfälle bei internationalen Turnieren in Portugal, Italien und Israel registrier. Auch bei innerfranzösischen Spielen kam es zu ähnlichen Ereignissen: Im Mai 2002 pfiff ein Teil des Publikums beim Finale der französischen Liga, bei denen sich die Clubs aus dem bretonischen Lorient und aus dem korsischen Bastia gegenüber standen. Daran dürften vor allem Korsen, die einem insularen Nationalismus gegen Kontinentalfrankreich anhängen, teilgenommen haben.
Präsident Jacques Chirac verließ damals kurzfristig die Präsidententribüne, auf die er jedoch im Anschluss zurückkehrte, und Funktionäre des Französischen Fubballverbands FFF verlasen am Mikrophon eine Entschuldigung „an Frankreich“. Aber das Spiel wurde daraufhin zu Ende gefüht.

Pfiffe, immer wieder Pfiffe

In den Köpfen hängen geblieben sind unterdessen beim Publikum vorwiegend ähnliche Zwischenfälle, die am Rande von Länderspielen zwischen Frankreich und nordafrikanischen Staaten stattgefunden haben.
Zuvörderst natürlich die Bilder vom Freundschaftsspiel Frankreich-Algerien am 6. Oktober 2001, ebenfalls im Stade de France von Saint-Denis. Die Zuschauer dieses Matchs hatten damals nicht nur erlebt, dass die Marseillaise in dem Stadion, das bis zu 70.000 Menschen fasst, von zahlreichen Anwesenden ausgepfiffen wurde. Unter ihnen waren Tausende junger Franzosen algerischer Herkunft, die damit unter anderem auch durch eine trotzig-rotzige Geste zum Ausdruck brachten, dass man sie in Frankreich oft ohnehin nicht als „vollwertige Franzosen“ betrachtet.

Enthusiasmus statt Randale. Aber auch 9/11

Vor allem aber musste das Spiel damals aus einem anderen Grunde abgebrochen werden, weil nach einem algerischen Tor viele junge Fangs in ihrem Enthusiasmus auf das Spielfeld drangen und über den Rasen liefen. Das hatte nichts Aggressives an sich, sondern war vielmehr der Ausdruck einer über die Stränge schlagenden, etwas anarchischen Begeisterung vieler junger Franko-Algerier, die vom Taumel der Gefühle ob der „Verbrüderung” mit angereisten algerischen Fans mitgerissen waren.
Zahlreiche dieser jungen Leute trafen erstmals auf Algerier von jenseits des Mittelmeers, denn in den neunziger Jahren herrschte dort Bürgerkrieg, und die Grenzen waren jedenfalls von Süden Richtung Norden zeitweise fast hermetisch dicht. Das Ganze hatte mehr von einer überbordenden Feststimmung denn einer Gewaltatmosphäre.
Aber 9/11 lag damals erst drei Wochen zurück, und ein Gutteil des französischen Publikums reagierte entsetzt und verängstigt auf diesen „Beweis unzureichender Loyalität“ junger Staatsangehöriger zur Nation: Waren sie nicht doch die „fünfte Kolonne“ des internationalen Terrorismus?
Ähnlich fallen die Reaktionen aus, die auch dieses Mal wieder abgerufen werden, auch wenn heute in der Öffentlichkeit kein vermeintlicher Zusammenhang zu Al-Qaida und Konsorten hergestellt wird.

Pfeifen als Frage der Ehre.Und als Zeichen des sportlichen Missmuts

Im Vorfeld des Matchs Frankreich-Tunesien hatte die französische Polizei mit „Zwischenfällen“ der Art, wie sie sich denn auch ereigneten, gerechnet.
Nach den Pfiffen gegen die Marseillaise von 2001, aber auch am Rande eines französisch-marokkanischen Freundschaftsspiel im November des Vorjahres 2007 – aber im vergangenen Jahr war wesentlich weniger darüber berichtet worden als heute – schien klar, dass auch dieses Mal mit Ähnlichem zu rechnen war.
Denn die jungen Franzosen tunesischer Herkunft konnten es schlieblich nicht auf sich sitzen lassen, weniger aufs Tapet zu legen als jene algerischer oder marokkanischer Abstammung: So viel „Stolz“ musste in den Augen mancher von ihnen schon sein. Ein Wettbewerb, wenn auch der aubersportlichen Art. Manche Zuschauer sollen sich seit einem Monat auf die Aktion vorbereitet haben. Dass diese dann, wie bei Massenphänomenen üblich, im Stadion zum Selbstläufer wurde, ist ebenfalls nachvollziehbar.
Es kam, wie es beinahe kommen musste. Die Veranstalter hatten versucht, vorzubeugen, und das Absingen der jeweiligen Nationalhymnen auf rührende Art in Szene zu setzen versucht: Zwei junge Franko-Tuneseriennen, Amina und Lââm, hielten sich an der Hand, um jede von ihnen eine der beiden Hymnen anzustimmen.
Als Mademoiselle Lââm als Zweite an der Reihe war und die ersten Pfiffe beim Anklingen der französischen Hymne ertönten, schloss sie die Augen und sang sehr tapfer bis zum Schluss weiter. (Vgl. http://www.dailymotion.com/relevance/search/france%2Btunisie%2Bhymne/video/x72yxa_hymnes-francetunisie_sport) Unterdessen pfiffen mehrere Tausend Menschen, meister Unterstützer/innen der tunesischen Mannschaft, aber auch viele auf der französischen Seite Sitzenden.
Die Motive der Pfeifenden waren dabei sicherlich unterschiedlich: Für die Einen war es die gesuchte Provokation, für die Anderen ein Spiel oder ein Nachahmungseffekt.
Vermutet wird auch, dass Franzosen aus anderen Gründen mitgepfiffen hätten, nämlich um ihr Missfallen gegenüber der Nationalmannschaft, die in jüngster Zeit viel durch interne Probleme aufgefallen ist, Ausdruck zu verleihen.

Kommentare

1 Kommentar zu “Frankreich, Hymne, Sport und Politik. Teil 1: Wie alles begann”

  1. Frankreich: Hymne, Sport und Politik, Teil 2: Durchgreifen gegen Pfiffe : SportsWire am 10.25.08 00:06

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