Nov
24
Früher stand ich viele Jahre alle 14 Tage auf den heiligen Stufen der Gegengerade am Millerntor und habe unsere Jungs immer wieder nach Bremen oder Meppen begleitet. Meinen Dienst- habe ich wie meine Sozialkontakte nach dem Spielplan ausgerichtet. Ich habe mit meinem Verein gefiebert und gefeiert. Und gelitten. Oh, ich habe gelitten wie ein Hund, wenn ich nach zwei Stunden Anfahrt ein kampfloses 0:0 im 2° C kalten Nieselregen geboten bekam. Oder wenn St. Pauli in Überzahl wieder einmal eine Führung hergegeben hat. Wenn Michel Dinzey zum Freistoßtrick ansetzte oder René Müller … ach, lassen wir diese alten Geschichten ruhen.
Irgendwann hatte dann – mehr oder weniger plötzlich – am Wochenende die Familie Priorität: „Samstag gehört Papi mir!“ (OK, das kommt aus einem ganz anderen Zusammenhang, ist aber eins zu eins übertragbar). Ich kann berichten, dass nach etwa fünf Jahren das unkontrollierte samstägliche Zittern und Hyperventilieren nachlässt, wenn man, während der Verein das wichtige Heimspiel gegen gerade den Gegner austrägt, bei dem noch diese Rechnung aus der Saison 91/92 offen ist, mit dem Nachwuchs im Wildgehege die Rehe mit selbst gesammelten Kastanien füttert. Es gibt also keinen Grund, wegen dieser ganz speziellen absolut unwichtigsten Nebensache der Welt auf die Gründung einer Familie zu verzichten.
Nach manch einem Grottenkick habe ich mich sogar schon ganz heimlich gefreut, dass ich nicht frierend im Stadion stand, nicht etliche Euros bezahlt habe, nur um mich ob mangelnder Leistung, mangelnden Kampfes, schlechten Wetters und einer Heimniederlage gegen den letzten der Tabelle zu ärgern und mich von den gegnerischen Fans verhöhnen zu lassen. Bei manch einem Spiel ist es für die seelische Hygiene und das Herz-Kreislauf-System einfach gesünder, sich nur die Highlights des Spiels im TV anzusehen.
Zugegeben, es ist etwas schwieriger geworden, die richtige Sendung zur richtigen Zeit anzuschalten, seit die Fernsehsender die Spielpläne der oberen Ligen nach den Wünschen ihrer Werbepartner gestalten und der Spieltag so ähnlich aussieht wie der Stundenplan meines Sohnes, der in der vierten Klasse ebenfalls fünf Spieltage in der Woche hat: Da wird also Donnerstags gespielt, Freitag am frühen Abend, Freitag am späteren Abend, Samstag Mittag, Samstag Nachmittag, Samstag Abend, Sonntag Mittag, Sonntag Nachmittag, Sonntag Abend. Und Montag. Montag um 20:15 Uhr, nach der Tagesschau, live im DSF: das socalled „Topspiel“ der zweiten Liga.
Selbstverständlich übe ich an Altruismus grenzende Solidarität mit den aktiven Fans, die der Kommerzialisierung manchmal sogar für Heimspiele einen Tag Urlaub opfern müssen und gucke NIE die Montagsspiele. NIE. Stattdessen sitze ich vor unserem demonstrativ vom Stromnetz getrennten Breitbild-Fernseher und skandiere aus vollem Halse das szeneübliche „Scheiß DSF!“.
Um das Spiel auf dem und abseits des Rasens dennoch verfolgen zu können, stehen mir ganz andere, politisch zumindest zum Teil korrekte Informationskanäle zur Verfügung, schließlich bin ich nicht von gestern: Tage vor dem Spiel duchforste ich die bestbesuchten Foren beider Vereine und deren Fans, um in Erfahrung zu bringen, was auf beiden Seiten geplant ist. Meinen Eindruck kann ich evaluieren, nachdem ich kurz vor dem Spieltag die Mail meines Schwagers bekommen habe, der beim BGS arbeitet und jedes Wochenende die Stadien dieses Landes bereist. Während ich nun also am Spieltag der twitter-Gruppe „Sonderzug_FCSP“ folge, um mir die aktuellen, auf 140 Zeichen komprimierten Anekdoten der per Zug Anreisenden zu ziehen, trudeln im Takt von etwa 5-10 Minuten SMS mit aktuellen Erlebnisberichten auf Autobahnraststätten von bis zu einem Dutzend automobiler Fahrgemeinschaften aus ganz Deutschland auf meinem Mobiltelefon ein (bei außergewöhnlichen Vorkommnissen erhalte ich selbstverständlich MMS, weil: keine Photos – nie passiert). Vor den Stadiontoren bekomme ich in der Regel die ersten fernmündlichen Zusammenfassungen der Lage, das Wetter, die Stimmung, besondere Mobactions und Gefahren betreffend. Als Gegenleistung quasi gebe ich schon mal vorab die Aufstellung der Teams bekannt, die mir der Ticker der Basis St. Pauli verrät. Selbiger ist es auch, der mich neben etwa 20 bis 30 auf twitter oder identi.ca live kommentierenden Fans relativ ausführlich und angemessen zeitnah über den Spielverlauf informiert – zumindest wenn ich den Firefox auf alle 30 Sekunden „automatisch neu laden“ einstelle, weil alle 60 Sekunden doch etwas zu lang ist. Ich spare mir an dieser Stelle den Audiostream des Fanradios und lasse mir stattdessen die Highlights von ausgesuchten Fans via twaudio, den Audio-Dienst von twitter, übermitteln, weil ich mich sonst nur schlecht auf die eingehenden Anrufe aus dem Stadion konzentrieren kann, die mich in erster Linie an der Stadionatmosphäre teilhaben lassen, mich aber selbstverständlich auch mit brühwarmen Informationen über die Aktivitäten aus der eigenen und gegnerischen Kurve auf dem Laufenden halten. Dank auf twitpic und anderen mobil bedienbaren Multimediahostern, die ich auf einem zweiten Bildschirm neben- und übereinander anordne und die mich nahezu in Echtzeit mit Photos und Videos aus dem Stadion versorgen, weiß ich alles über Choreos, kurz nachdem sie aufgeführt und kenne die Transparente, direkt nachdem sie ausgerollt wurden. Via Jabber und ICQ tausche ich Links und Infos mit anderen Daheimgebliebenen, schließlich kann man auf mal gerade zwei 19 Zoll- Monitoren nicht alles im Auge behalten.
Die Stunden nach dem Spiel gehören dann wiederum dem Studium der einschlägigen News-Magazine, Online-Zeitungen, blogs und Foren. Und am Folgetag kaufe ich mir sogar eine Ausgabe eines bekannten Hamburger Holzmediums.
Epilog: Wenn hier in der tiefen Provinz, in der ich zu Hause bin, endlich DSL angeboten wird, abonniere ich natürlich zusätzlich die Flimmerkiste auf www.fcstpauli.tv, auf der ich – um zehn Minuten zeitversetzt zwar – alle St. Pauli Spiele live sehen kann. Dann fehlt mir gar nichts mehr. Höchstens ein dritter Monitor.
Kommentare
8 Kommentare zu “Fan 3.0”
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Mir dünkt, es ist doch besser und stressfreier, persönlich bei den Spielen zu erscheinen 😉
Thomas (Fan 1.01)
Kleine Korrektur. “um zehn Minuten zeitversetzt zwar” ist nicht ganz richtig, denn das Spiel ist erst 10 Minuten nach Abfiff abrufbar. Und das in einer imho lausigen Qualität: http://s.ring2.de/5k ;(
Von seiner Zeit in Hannover habe ich Michel Dinzey viel weniger als Freistossschütze oder überhaupt als Fußballspieler in Erinnerung als vielmehr als Porschefahrer…
hm, von meinen 6 vorkommentatoren hab ich nur 2 verstanden.
wahrscheinlich bin ich nur ein fan 0.9 und guck auch nur nationalmannschaft im öffentlich-rechtlichen. für werbekundschaft eh nicht tauglich …
Großartiger Artikel, ich habe mich in der Aktionsbeschreibung rund ums Spiel in spätestens jeder zweiten Zeile wiedergefunden.