Leutnant Rye hat nicht mehr erlebt, dass aus dem, was er zum ersten Mal schriftlich erwähnte, eine richtig echte Sportart wurde.
Bis es dazu kam, dauerte es allerdings einige Jahrzehnte – und noch viel länger dauerte es, bis die heute gültige Idealhaltung gefunden worden war.

Erst 1879 wurde in Norwegen die erste richtige Schanze errichtet, auf dem berühmten Holmenkollen gab es 1892 erste Wettkämpfe. Dabei galt die so genannte Telemark-Landung bereits als Standard, zum ersten Mal erwähnt wurde sie jedoch erst 1906 von dem Dichter Henry Høk. Allerdings, davon muss ausgegangen werden, sahen die Sportler während ihrer Sprünge wohl ziemlich dämlich aus, denn die »Opprake«-Technik erforderte einen geraden Oberkörper, angezogene Beine und wild rudernde Arme.

Der so genannte Vorlage-Stil wurde erst 1912 von Springern aus den USA entwickelt, wo der Erbauer der Anlage am Holmenkollen gerade auch eine Schanze errichtet hatte. Obwohl auch dieser Stil seltsam anmutete. Während der Oberkörper angewinkelt wurde, wurden die Arme wie beim Schlafwandeln so weit wie möglich nach vorne gestreckt.

Trotzdem wurde die Sportart rasch populär. An der ersten Winterolympiade 1924 in Chamonix – 1908 und 1920 waren bei den Sommerspielen Eiskunstlaufen und Eishockey im Programm gewesen – durften auch die Skispringer teilnehmen. Im Spezialsprunglauf, wie die Sportart damals auf Deutsch hieß, ermittelte die Jury den Durchschnittswert aus der erzielten Weite und den streng geheimen Stilnoten, die auf einer Skala von null bis 20 bewertet wurden.

Das Verfahren war derart kompliziert, dass es zu einem Fehler bei der Medaillenverteilung führte, der erst 50 Jahre später bemerkt wurde. 1974, bei einem Treffen der noch lebenden Olympiateilnehmer von Chamonix, machte der damalige Zweite im 50-Kilometer-Langlauf, Thoralf Strømstad, den Direktor des Holmenkollen-Museums auf die falsche Berechnung aufmerksam. Jakob Våge überprüfte die alten Listen und stellte fest, dass sich die Offiziellen tatsächlich geirrt und dem falschen Mann die Bronzemedaille überreicht hatten.

Der Norweger Thorleif Haug hatte in Wirklichkeit fast einen Zehntelpunkt weniger erreicht als der ursprünglich Viertplatzierte Amerikaner Anders Haugen. Haug war jedoch bereits im Jahr 1934 an einer Lungenentzündung gestorben, seine Tochter Anne-Marie Magnussen überreichte schließlich 1974 dem mittlerweile 86jährigen Haugen während einer kleinen Feierstunde am Holmenkollen die Bronzemedaille ihres Vaters.

Auch 1928 war es beim olympischen Springen in St. Moritz zu einem Skandal gekommen. Um den Zuschauern ein echtes Spektakel zu bieten und um größere Weiten zu erzielen, wollten die Funktionäre im zweiten Durchgang den Anlauf verlängern. Auf die Sicherheitsbedenken einiger Jurymitglieder gingen sie nicht ein. Bei böigem Wind sprang der Olympiasieger von 1924, Jakob Tullin Thams, zwar sensationelle 70 Meter weit, stürzte jedoch bei der Landung so schwer, dass er wegen der erlittenen Wirbelverletzungen seinen Sport nie wieder ausüben konnte.

Bei der folgenden Olympiade 1932 in Lake Placid und 1936 in Garmisch-Partenkirchen ging dann erstmals alles glatt. Die Begeisterung über die Männer, die sich von den Schanzen stürzten, wurde immer größer. Der Schwede Sven Ericsson, Zweiter in Garmisch, bekam von den hocherfreuten Gemeinderäten seines Heimatortes Selånger sogar einen neuen Namen geschenkt. Weil es dort bereits so viele Ericssons gab, durfte er sich zur besseren Unterscheidung Sven Selånger nennen.

Die Sprungwettbewerbe gewann der Norweger Birger Ruud, der erste Star dieser Disziplin. Ruud, der zeitweise in Österreich und in Deutschland lebte, verweigerte später aus Protest gegen die deutschen Besatzer, die sich gern mit seiner Popularität geschmückt hätten, alle Starts zu offiziellen Anlässen. Stattdessen veranstaltete er mit Freunden eigene Springen. »1943 wurde Ruud verhaftet und ins KZ Grini gesteckt, wo auch sein Bruder Sigmund inhaftert war«, schreibt Volker Kluge in seiner Chronik »Die Winterspiele«. Erst kurz vor dem Kriegsende kam Ruud wieder frei, an die großen sportlichen Erfolge konnte er trotz einer Silbermedaille bei der Olympiade 1948 nie wieder richtig anknüpfen.

Mittlerweile hatte sich zudem der Sprungstil geändert. 1936 war Sepp Bradl der erste Sprung über 100 Meter gelungen, der Österreicher hatte dabei den Hüftknick eingeführt. 14 Jahre später wurde das Skispringen von dem Schweizer Andreas Däscher erneut revolutioniert. Statt wie beim Kopfsprung vom Dreimeterbrett mit den Armen voran von der Schanze zu hüpfen, legte er sie plötzlich seitlich eng an die Oberschenkel. Tropfenstil wurde diese Haltung damals genannt.

Danach entwickelte sich das Skispringen zunächst nur wenig weiter. Bjørn Wirkola, Wladimir Beloussow, Hans-Georg Aschenbach, Toni Innauer, Jens Weißflog und Matti Nykänen hüpften alle brav im Tropfenstil von den Schanzen und machten die Sportart zu einer der verlässlichsten überhaupt.

Dann jedoch kam es wieder zu einer Revolution des Sprungstils. 1987 erfand Jan Bokloev den auch heute noch gebräuchlichen V-Stil – eigentlich aus Zufall: Beim Versuch, einen Sturz zu vermeiden, nahm der Schwede, was bis dahin streng verboten war, die Beine auseinander und segelte dadurch drei bis fünf Meter weiter als je zuvor. Der bis zu diesem Zeitpunkt mittelmässige Springer blieb danach hartnäckig beim V. Die Kampfrichter gaben ihm regelmäßig unterirdisch schlechte Haltungsnoten, die Bokloevs Weiten jedoch nicht immer egalisierten. In der Saison 1989/1990 konnte er den Weltcup gewinnen, rasch entdeckte auch die Konkurrenz die Vorteile des neuen Stils, Jan Bokloev beendete seine Karriere, arbeitet heute als Trainer der schwedischen Damen-Nationalmannschaft, und nun ist wieder Ruhe.

Rye hätte die Entwicklung seiner Sportart zum Großereignis sicher gefallen, auch wenn seine Landsleute keine Rolle dabei spielten. Immerhin, der Oberst ist in Dänemark bis heute nicht vergessen. Ein Denkmal in Kopenhagen erinnert an ihn, eine dänische Militärunterkunft im Kosovo ist nach ihm benannt. Sein Skisprung sei schließlich, da sind sich die Nachbarn in Schweden und Norwegen sicher, der weiteste, der einem Dänen je gelang.

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