Das Mysterium des Pfeifens

von Alex Feuerherdt

Der Dokumentarfilm »Spielverderber« ist ein gelungenes Porträt der Spezies Fußballschiedsrichter. Und das nicht obwohl, sondern gerade weil er keine Antwort auf die Frage gibt, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, Unparteiischer zu werden.

Unter Fußballern kursiert eine ziemlich gehässige Formel: Wer es auf dem Platz nicht (mehr) bringt, der wird Trainer. Wem da­für die Menschenkenntnis fehlt, der wird Funktionär. Und bei wem es auch dafür nicht reicht, der wird Schieds­richter. Dass die Schiedsrichter oft nur als notwendiges Übel geduldet werden, davon zeugen auch die schmucklosen Metallschilder, die heute noch an zahlreichen Sportplätzen zu finden sind. »Sei fair zum 23. Mann«, wird auf ihnen ap­pelliert. »Ohne Schiri geht es nicht!«

Was sind das eigentlich für Menschen, die sich Spieltag für Spieltag von der E-Jugend bis zur Bundesliga beschimpfen, bedrohen, verspotten und manchmal sogar verprügeln lassen? Handelt es sich bei ihnen tatsächlich nur um gescheiterte Fußballer, denen jede soziale Kompetenz abgeht und die deshalb zu Wochenendkommandierern werden? Oder haben die rund 78 000 Schiedsrichter hierzulande womöglich ganz andere Motive, zur Pfeife zu greifen? Diese Fragen haben sich auch die beiden Filmemacher Georg Nonnenmacher und Henning Drechs­ler gestellt – und 2003 auf einer Silvesterparty beschlossen, ihnen mit Kamera und Mikrofon auf den Grund zu gehen.

Sechseinhalb Jahre nach der Geburt dieser Idee ist das Ergebnis nun im Kino zu sehen: »Spiel­verderber« heißt der allererste Dokumentarfilm über Fußballschiedsrichter. Die beiden Regisseure und ihr Team beobachteten dafür in den Jahren 2005 und 2006 drei Unparteiische, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Kevin Prös­dorf war Schüler und gerade einmal 14 Jahre alt, als er im Vereinsheim der SpVg 1920 Köln-Flittard e.V. die Prüfung ablegte und anschließend seine ersten Spiele leitete. Zu diesem Zeitpunkt hatte Oreste Steiner bereits rund 3 600 Partien hinter sich; der heute 73jährige Schweizer ist seit über 50 Jahren Schiedsrichter und pfeift noch immer Spiele in der Essener Kreisliga. Komplettiert wurde das Trio von Bundesliga- und Fifa-Schiedsrichter Herbert Fandel (45), der vor zwei Wochen seine Karriere beendet hat.

Herausgekommen sind eindrucksvolle Porträts der Protagonisten, die zu einem nicht minder eindrucksvollen Porträt der Spezies Fuß­ballschiedsrichter verschmelzen. Denn obwohl die drei Hauptdarsteller mehr trennt als eint, spannt »Spielverderber« immer wieder den Bogen: Wo überehrgeizige Jugendtrainer dem Neu­ling Kevin das Leben schwer machen, muss sich der erfahrene Oreste Steiner gegen undisziplinierte Kreisligafußballer verbal zur Wehr setzen, während der Pianist Herbert Fandel in Dortmund bereits bei der Platzbesichtigung vor einem Bundesligaspiel mit einem Pfeifkonzert begrüßt wird. Wo in Kevins Spielen die Zehnjährigen noch reichlich unbeholfen gegen den Ball treten, schießt ein Kreisligaspieler in einer von Oreste Steiner geleiteten Partie den Ball mutterseelenallein vor dem Tor fünf Meter daneben, während der Nürnberger Saenko in ei­nem DFB-Pokalspiel beim Elfmeterschießen viel zu hoch zielt. »Man sieht, dass eben nicht im­mer nur die Schiedsrichter Fehler machen«, sagte Regisseur Henning Drechsler der Jungle World. »Und genau das wollten wir auch zeigen.«

Rund 150 Stunden Filmmaterial haben er, sein Partner Georg Nonnenmacher und das Team zu­sammengetragen, knapp 90 Minuten davon sind für »Spielverderber« ausgewählt worden. Die Bilder, insbesondere die zahlreichen Nahaufnahmen, entfalten dabei ihre Wirkung gerade da­durch, dass sie nicht von einer Stimme aus dem Off kommentiert werden. Überhaupt doku­mentieren die Filmemacher nur und bleiben selbst stets hinter der Kamera. Und es ist ihnen ein Anliegen, nicht nur die sportliche Seite des Schiedsrichterdaseins, sondern sozusagen auch den Menschen hinter dem Spielverderber zu zeigen. So entstehen immer wieder bemerkenswerte Kontraste, die durch den grandiosen Schnitt von Anika Simon zusätzlich betont werden: Herbert Fandel, der eben noch vor 80 000 Zuschauern im Dortmunder Westfalenstadion ein Spiel leitete, feuert nun seinen Sohn bei einem Jugendspiel in einem Eifeldorf vom Spielfeldrand aus an wie andere Eltern auch. Oreste Steiner, der eben noch renitente Aschenplatzkicker ermahnt hat, preist jetzt mit sanfter Stimme und versonnenem Blick die Schönheit der Schweiz. Kevin Prösdorf, der eben noch einen ausfälligen Zuschauer des Sportplatzes verweisen musste, bekommt auf einmal Ärger mit seinen Eltern, weil er in der Schule selbst über die Stränge geschlagen hat.

Ein überaus gelungener Film, wie auch Helmut Friebertz findet: »Er gewährt einen Einblick in das Seelenleben der Schiedsrichter und vermittelt sogar Laien sehr gut, was es bedeutet, Schiedsrichter zu sein«, sagte er der Jungle World. Friebertz ist der Schiedsrichter-Obmann des Fußballkreises Köln und hat »Spielverderber« von Anfang an mit Rat und Tat begleitet. Seiner Initiative ist es auch geschuldet, dass Kevin Prös­dorf zu einem der Hauptdarsteller wurde. Friebertz hofft, dass sich das Bild der Unparteiischen in der Öffentlichkeit durch den Film verbessert und dass durch ihn neue Schiedsrichter geworben werden können. Denn die Fluktuation ist hoch. »Pro Jahr bilden wir in Köln zwar rund 120 neue Schiedsrichter aus«, erklärt er, »aber fast genauso viele hängen die Pfeife wieder an den Nagel.« Das Gros der Neulinge wie auch der Aufhörer seien dabei Jung­schieds­rich­ter, also minderjährige Unparteiische. »Nicht wenige wollen sich mit dem Pfeifen ihr Taschen­geld aufbessern«, weiß Friebertz, »aber manche sind den Anforderungen einfach nicht gewachsen und haben auch keine Lust, sich ständig anfeinden oder gar angreifen zu lassen.«

Kevin Prösdorf hingegen ist immer noch Schiedsrichter. In »Spielverderber« erläutert der heute 18jährige sein Hauptmotiv, warum er Unparteiischer geworden ist: Er habe sich in sei­ner Schulklasse einfach nicht durchsetzen können; jetzt hingegen sei er wesentlich selbstbewusster. Oreste Steiner hat auch nach über 50 Jahren an der Pfeife immer noch »eine Menge Spaß« auf dem Platz. Und für Herbert Fandel ist die Schiedsrichterei »eine Leidenschaft, die nie enden wird«, sondern ihm sogar den Posten als Vorsitzender des DFB-Schiedsrichter-Ausschus­ses bescheren dürfte, wenn der jetzige Amtsinhaber Volker Roth aufhört. Worin dieser Spaß und diese Leidenschaft eigentlich genau bestehen sollen, können die Protagonisten in »Spielverderber« allerdings nicht vermitteln. Und auch die Motive für den Entschluss, Unparteiischer zu werden, bleiben trotz Kevins dezidierten Äußerungen letztlich unklar. Selbst Regisseur Henning Drechsler muss auf Nachfrage zugeben, dass ihm diese Frage weiterhin »ein Mysterium ist«.

Doch es ist gerade eine der großen Stärken dieses wunderbaren und sehr authentischen Films, dass er nicht zwanghaft nach einer Antwort gesucht hat. Vielleicht gibt es auch gar keine – oder aber Tausende verschiedene. Eines macht »Spielverderber« jedoch klar: Die Formel der Fußballer, dass Schiedsrichter unsportliche Stümper sind, die nicht ganz zurechnungsfähig sind, ist falsch. Die Schiedsrichter sind auch nicht bloß ein notwendiges Übel. Sie sind noch nicht einmal Spielverderber, sondern gehen vielmehr genauso mit Leidenschaft auf den Platz wie die Spieler auch – mit einem Unterschied: Sie haben dabei eine Pfeife im Mund.

Zuerst erschienen in der Jungle World vom 25. Juni 2009.

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