Am 6. Dezember fand in Berlin eine Tagung zum Thema „Sport und Nationalsozialismus: Erinnerungspolitik oder kritische Forschung? “ statt. Trotz der breiteren thematischen Aufstellung stand wieder einmal eine alt bekannte Frage im Zentrum der Aufmerksamkeit: War Carl Diem, Organisator der Olympischen Spiele 1936, Antisemit?

An einem durch und durch grauen Nikolaustag waren um die sechzig Personen im Audiotorium der Topographie des Terrors in Berlin-Kreuzberg zusammengekommen, um Vorträgen rund um das Thema „Sport im Nationalsozialismus“ zu lauschen. Zur Begrüßung sprach Wolfgang Benz, Kopf des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Berliner Technischen Universität und Autor unzähliger Bücher zum Thema. Benz erläuterte in seinen einleitenden Worten, dass Anlass der Tagung die anstehende Veröffentlichung der Dissertation Ralf Schäfers über die Person Carl Diems in Buchform sei. Was er jedoch dezent verschwieg, ist, dass die Tagung auch im Lichte eines aktuell geführten Gelehrtenstreits über die historische Einordnung eben jenes Sportfunktionärs zu sehen ist. Auslöser dieses Streits war eine vom Oberhausener Historiker Frank Becker im Auftrag von Deutscher Sporthochschule, Deutschem Olympischen Sportbund und Krupp-Stiftung angefertigte kritische Biographie Carl Diems, die den Multifunktionär in keinem schmeichelhaften Licht erscheinen ließ. Trotz der von Becker erhobenen und mit Beweisen unterlegten Vorwürfe kam der Projektbeirat unter der Leitung des Sportwissenschaftlers Michael Krüger und des Pädagogen Ommo Grupe zu dem Schluss, Diem sei weder Militarist noch Antisemit noch Nazi gewesen. Die Ursache der Kontroverse dürfte jedoch wie so oft in der alten Binsenweisheit zu finden sein, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Carl Diem als Gründer der Deutschen Sporthochschule und als Säulenheiliger der bundesrepublikanischen Sportgeschichte scheint für einige noch immer unantastbar zu sein.

Im ersten Panel der Tagung wurde vor allem auf die geschichtlichen Hintergründe eingegangen, während sich das zweite Panel explizit der Verstrickung Diems und anderer in den Nationalsozialismus widmete. Zu Beginn lieferte Daniel Wildmann vom Leo Baeck Institute in London einen kurzen historischen Überblick über die jüdische Turnerbewegung im deutschen Kaiserreich und versuchte zu erläutern, weshalb und auf welche Weise sie sich vom Mainstream der deutschen Turnerbewegung abgrenzte. Im Anschluss erörterte Lorenz Peiffer von der Universität Hannover, wie sich der Ausschluss jüdischer Menschen aus den deutschen Sportvereinen nach der Machtübernahme der NSDAP vollzog. Er legte dabei großen Wert darauf, dass dieser Ausschluss in den allermeisten Fällen ohne Weisung von oben in einer Art vorauseilendem Gehorsam von statten ging. Schließlich widmete Diethelm Blecking von der Universität Freiburg seinen Vortrag den In- und Exklusionsmechanismen in der Geschichte des deutschen Sports von den Anfängen der Turnerbewegung in der Zeit der napoleonischen Kriege bis zum Nationalsozialismus. Er charakterisierte das deutsche Turnerwesen als nationalchauvinistisch, frauenfeindlich, antisemitisch, franzosenfeindlich und von einer Germanomanie beseelt. Ziel sei stets die Schaffung eines homogenen Deutschtums durch aktive Ausschliessung aller als Fremdkörper empfundenen Anderen gewesen. Diese Exklusionsmechanismen richteten sich vor allem gegen jüdische Menschen, ethnische Minderheiten aber auch gegen Frauen. Zeitgleich sei der Turnerschaft jedoch auch eine zentrale Rolle bei der Gründung und Etablierung einer Zivilgesellschaft zugekommen. Für die Zeit der Weimarer Republik nannte er als einen zentralen Punkt die explizite Nähe auch moderner, aus England eingeführter Sportarten zum Militär und zum Militarismus, woran sich in der Zeit nach 1933 nahtlos anknüpfen liess.

Nach der Pause versuchte Hubert Dwertmann darzulegen, inwiefern und auf welche Weise in der Zeit des Nationalsozialismus Sport und Politik miteinander verknüpft waren. Seiner Ansicht nach sind ausnahmslos alle Entwicklungen im Sport in jener Zeit im Kontext des Nationalsozialismus und der Militarisierung bzw. des Militarismus zu sehen. Er legte dar, wie es zu einer schrittweisen Verlagerung des Sportwesens von den klassischen Verbänden weg hin zum Reichsbund für Leibesübungen und der Kraft durch Freude(KdF)-Organisation kam und auch, wie nahezu alle Beteiligten nach 1945 unisono versuchten jede Schuld von sich zu weisen, indem sie behaupteten, der Sport sei von den Nazis quasi okkupiert worden, was laut Dwertmann so nicht der Wahrheit entspricht. Der Sport sei niemals unpolitisch gewesen. So war etwa der damalige Präsident des Deutschen Fußballbundes Felix Linnemann in verantwortlicher Position an der Deportation und damit dem organisierten Massenmord von Sinti und Roma verantwortlich. Ein anderes Beispiel wäre Walter von Reichenau, der 1933 zum Reichssportkommissar ernannt worden war und später als Generalfeldmarschall und Kommandeur der 6. Armee der deutschen Wehrmacht an schwersten Kriegsverbrechen in Osteuropa wie dem Massaker von Babyn Jar beteiligt war.

Ein drittes Beispiel für fragwürdige Verwicklungen mit dem NS-Regime wäre schließlich Carl Diem, dem sich der letzte Beitrag des Tages widmete. Ralf Schäfer belegte in seinem Vortrag anhand zahlreicher Beispiele aus allen Lebensphasen Diems, dass dieser eindeutig Antisemit war. Er zitierte zahlreiche antisemitische Ausfälle Diems aus privater Korrespondenz wie auch aus öffentlich zugänglichen Texten aus seiner Feder. Da ist von einer „Semitenbande“ die Rede, von einem „eitlen Juden“ und von der „Judenpresse“, die alle publizistische Macht in den Händen halte. Diem glaubte beim Wintersport jüdische Menschen anhand ihrer allgegenwärtigen X- und O-Beine zu erkennen und bezog sich selbst nach 1945 noch immer positiv auf Adolf Wagner, den ehemaligen Vorsitzenden der antisemitischen Stoeckerpartei im wilhelminischen Kaiserreich. Becker zeichnete in seinem Vortrag das Bild eines Antisemiten alter Schule. Wie auch Wolfgang Benz in seinen abschließenden Worten sagte, war Diem mit Sicherheit kein Nationalsozialist. Deren lauter und antibürgerlicher Radauantisemitismus war ihm sehr wohl zu wider. Als Anhänger eines wilhelminisch geprägten bürgerlichen Antisemitismus bevorzugte er es dezenter. Doch entschuldigt ihn seine relative ideologische Ferne zum Nationalsozialismus nicht davon, mit dem NS-Regime kollaboriert zu haben und schon gar nicht davon, dass er sich nach 1945 nicht seiner Schuld gestellt hat, sondern ganz im Gegenteil sich selbst als Opfer inszeniert hat. Vor allem aber ändert es nichts daran, dass er Nationalist, Militarist und Antisemit war. Ein Land in dem das nicht ausreicht, um jemanden nachhaltig zu diskreditieren, hat noch eine Menge zu lernen.

Das Buch „Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus: Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich“ von Ralf Schäfer wird voraussichtlich im Februar 2011 im Metropol Verlag erscheinen.

Kommentare

5 Kommentare zu “Carl Diem zwischen Sport und Nationalsozialismus”

  1. SportsWire: Carl Diem zwischen Sport und Nationalsozialismus « jan tölva am 12.07.10 22:50

    […] Diems, Organisator der Olympischen Spiele 1936 in Berlin und Antisemit. Der Artikel findet sich [hier]. Verfasst von jntlv Abgelegt in journalistisches Hinterlasse einen Kommentar » LikeSei […]

  2. David am 12.08.10 22:29

    Hallo in Safari sieht dein Blog irgendwie seltsam aus.

  3. Elke Wittich am 12.10.10 23:40

    Kannst Du vielleicht mal einen Screenshot schicken, David?

  4. Haltet den Diem! : SportsWire am 12.18.10 14:51

    […] Carl Diem zwischen Sport und Nationalsozialismus […]

  5. Der falsche Adler im Viertelfinale « fussball von links am 03.17.11 00:32

    […] hatten sich bei feuchtkaltem Wetter nach Grunewald zur Heimstätte des vom notorischen Antisemiten Carl Diem gegründeten Vereins. Zum Glück hatte der Regen im Laufe des Tages nachgelassen und der […]

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