Jun
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Wie wird die Fußballweltmeisterschaft jenseits der offiziellen Verlautbarungen und Berichte von den Menschen in Südafrika wahrgenommen? Matthias Gruber, Doktorand des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität, richtet seinen ethnologischen Blick nicht nur auf die offizielle Diskussion, wie die WM zur Nationenbildung beitragen kann, sondern beschäftigt sich auch mit solchen „off-stage-Diskursen“.
Seit drei Wochen ist Gruber bereits in Johannesburg. Dort beobachtet er unter anderem, was der Aufruf der Medien, der lokalen WM-Organisatoren und der Regierung an die Südafrikaner bewirkt, freitags im Vorfeld der WM das Trikot der Nationalmannschaft „Bafana Bafana“ zu tragen sowie Autos und Häuser mit Fahnen zu schmücken.
„Das hat zu einem enormen Aufschwung des legalen und illegalen informellen Handels geführt. Straßenverkäufer und Ladenbesitzer haben ihr Angebot sofort angepasst“, so Gruber. „Neben Produkten, die frei verfügbar sind, gibt es zahlreiche gefälschte Markenartikel. Diese so genannten ‚Fong Kongs‘ sind nicht nur deutlich erschwinglicher, sondern sie bieten auch die Möglichkeit, gegen die Warenwelt der FIFA und der großen Konzerne zu protestieren.“
War der Handel mit „Fong Kongs“ wegen fehlender Kläger bislang Common Sense in Südafrika, so werden mit der Weltmeisterschaft auf Druck der FIFA insbesondere gefälschte Fußballtrikots zur Zielscheibe täglicher Polizeieinsätze gegen Händler und Kunden. Händler werden abgeführt, die Waren werden vernichtet. Dies kann dazu führen, dass das Angebot in einzelnen Straßenzügen knapp wird und die Händler ihre Ware für einige Zeit in Sicherheit bringen. Was der 38-Jährige Doktorand als teilnehmender Beobachter sieht, interpretiert er so: „Diese Einschränkungen werden von vielen als ungerecht wahrgenommen und als Beispiel asymmetrischer Hierarchien zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden verstanden.“
Vor diesem Hintergrund versucht er herauszufinden, wer die Händler sind und welchen Weg die Waren nehmen. Trotz des Risikos gesetzlicher Sanktionen nehmen die Händler das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei in Kauf, um an der WM finanziell zu partizipieren. Bei den illegalen Geschäften spielen, wie die Händler berichten, auch Fremdenfeindlichkeit und Rassismus eine Rolle, denn der Handel wird größtenteils von Immigranten aus afrikanischen Ländern wie Somalia, Äthiopien und dem Kongo betrieben, wobei der Zwischenhandel in den Händen von Chinesen liegen soll. Neben Klagen über die polizeilichen Übergriffe fürchten viele dieser Immigranten, das nach der Weltmeisterschaft und mit dem Nachlassen des internationalen Interesses fremdenfeindliche Übergriffe in Südafrika wieder zunehmen werden.
Nicht nur bei diesen Geschäften werden unterschiedliche, teils miteinander konkurrierende normative Ordnungen sichtbar. Sie zeigen sich auch in den Stadien selbst. Fans aus vielen Teilen der Welt treffen auf Südafrikaner, und damit prallen unterschiedliche kulturelle Identitäten aufeinander. Gruber will nun herausfinden, wie diese Identitäten unter dem Eindruck der Gemeinsamkeiten, die der Fußball erzeugt, neu ausgehandelt werden, wie beispielsweise die umstrittenen Vuvuzelas und die beliebten Makarapas (teils sehr kunstvoll gestaltete Bauhelme), die typisch für den südafrikanischen Fußball der 2000er Jahre sind, auf das internationale Publikum wirken und wie neue Verhaltensweisen und damit Normen geprägt werden. Im Moment lässt sich feststellen, wie zunehmend über die Vuvuzelas geklagt wird und sie dennoch zur Standardausrüstung auch der ausländischen Stadionbesucher gehören.
Gruber, der Ethnologie und Geschichte an der Goethe-Universität studiert hat und jetzt als Stipendiat des Exzellenzclusters bei Prof. Mamadou Diawara promoviert, hat sich während mehrmonatiger Aufenthalte 2007 und 2009 eingehend mit der Geschichte des Landes und des südafrikanischen Fußballs befasst und Feldforschungen bei südafrikanischen Fußballfans und in Stadien betrieben. Ziel war es unter anderem den spezifischen, südafrikanische Kontext, wie die Verarbeitung der Apartheid, zu verstehen und die WM vor diesen Hintergrund analysieren zu können.
In Südafrika wird im offiziellen Diskurs versucht, die WM als Ereignis zu nutzen, um die Bildung eines gemeinsamen nationalen Bewusstsein voranzubringen. „Die Idee der Regenbogen-Nation soll in der Vorstellungen der Menschen verankert werden. Sport spielt bei diesen Bemühungen seit Mitte der 1990er Jahre, genauer mit dem Gewinn der Afrikameisterschaft im Fußball 1996 und dem Gewinn der Rugby-Weltmeisterschaft 1995, eine herausragende Rolle“, sagt Gruber und ergänzt: „Während Rugby zumeist von weißen Südafrikanern gespielt wird, präsentiert sich die Fußball-WM als Ereignis der Bevölkerungsmehrheit.“
Gruber beobachtet auch Gegendiskurse, die diese Ziele in Frage stellen und den Vorwurf formulieren, die WM nütze nur den Eliten und dem Weltverband Fifa. Die offizielle Rhetorik betont zudem, dass eine Afrikanische Weltmeisterschaft stattfindet. „Sie soll zeigen, dass die marginale Stellung Afrikas in der Weltgemeinschaft beendet ist. Dagegen nehmen die westlichen Medien Afrika und damit Südafrika hauptsächlich defizitär wahr und perpetuieren dieses Bild auch im Vorfeld“, so der Frankfurter.
„Trotz aller Kritik an der Politik und Ökonomie der WM überwiegt die Freude der meisten Menschen, wie ich jeden Tag auf den Straßen in Südafrika feststelle. Der Fußball als Spiel stellt viel mehr dar, als ein höchst professionelles Medienspektakel.“ Diese Magie versucht Matthias Gruber einzufangen, in dem er auf die Methoden der Ethnologie wie teilnehmende Beobachtung und dichte Beschreibung zurückgreift. Um zu zeigen, wie sich normative Ordnungen herausbilden, ist die WM besonders geeignet. Denn in der Regel vollziehen sich diese Prozesse über längere Zeiträume, die empirisch schwer zu fassen sind. „Aber hier in Südafrika steht die Welt für den Zeitraum der Spiele auf dem Kopf“, so der Doktorand. Wie sich die südafrikanische Realität nach der Weltmeisterschaft neu ordnet, werden die nächsten Wochen zeigen.