Nur noch wenige Minuten waren zu spielen am Millerntor. Der FC St. Pauli lag nach schwacher Leistung gegen Schalke mit 0:2 zurück und hatte bei zwei Mann Unterzahl auch wenig Chancen darauf, an diesem Ergebnis noch etwas zu ändern. Plötzlich wirft jemand von den teuren Sitzplätzen auf der neuen Haupttribüne aus einen Bierbecher. Es ist nicht der erste und auch nicht der letzte, der an diesem Tag fliegt, doch dieser trifft. Von dem halbvollen Wurfgeschoss im Nacken getroffen sackt Schiedsrichterassistent Thorsten Schiffner in sich zusammen und wirkt kurz irritiert. Schiedsrichter Aytekin unterbricht das Spiel und entscheidet, nachdem er sich mit seinen beiden Assistenten beraten hat, das Spiel abzupfeifen. Zu diesem Zeitpuntk wären noch zwei Minuten zu spielen gewesen. Die Fans im Stadion und auch einige Spieler sind verwirrt bis empört. Immerhin haben sie, anders als die Menschen vor den Fernsehschirmen, nicht mitbekommen, was eigentlich geschehen ist. Genauso wenig können sie wissen, dass Assistent Schiffner richtig lag, als er in der 65. Minute ein Tor von Boll wegen passiven Abseits nicht gegeben hatte. Es dürfte vor allem diese Szene gewesen sein, die den Bierbecherwerfer zu seiner Tat bewegt hat.

Nach dem Spiel sind sich fast alle einig. Der Becherwurf war unter aller Sau. Zwar wirft sich Schalke-Neutrainer Rangnick noch für St. Pauli in die Bresche, indem er darauf verweist, dass die Schalke-Fans ja auch mit Gegenständen geworfen hätten, und St. Pauli-Keeper Pliquett meint zum NDR, dass so etwas doch Usus sei und er ständig beworfen und auch getroffen werden würde. Doch im Grunde sagen und wissen alle, dass egal wie üblich so etwas sein mag, es dennoch falsch ist und die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen höher anzusiedeln ist als das Spielgeschehen. Selbst im Forum der St. Pauli-Fans, in dem sich oft und gerne gezofft wird, herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass dieser Bierbecherwurf dumm, falsch und schädlich für den Verein war.

Der Schaden folgte dann, als eine Woche später das Sportgericht die Strafe verhängte. Das Heimspiel gegen Werder Bremen am 23. April soll vor leeren Rängen ausgetragen werden. Eigentlich hatten alle mit genau dieser Strafe gerechnet, und doch ist das Geschrei groß und das teilweise durchaus zurecht, denn so richtig und verständlich es war, dass Schiedsrichter Aytekin die Partie abgebrochen hatte, so wenig scheint bei dem Urteil des Sportgerichts die Verhältnismäßigkeit gewahrt, vor allem im Hinblick auf andere ähnliche Vorfälle.

Zum einen wird mit diesem Geisterspiel am drittletzten Spieltag der Saison möglicherweise massiv in den Abstiegskampf eingegriffen, in dem beide Teams derzeit bis zum Hals stecken. Fans anderer Vereine monieren, dass der SV Werder einen unverhältnismäßigen Wettbewerbsvorteil erhielte, wenn er als einziger Verein der Liga das Privileg erhielte, im für die lautstarke Unterstützung der heimischen Fans berüchtigten Millerntorstadion vor leeren Rängen zu spielen. Zum anderen stellt sich die Frage, wieso gerade bei diesem Spiel eine derart drastische Strafe verhängt wird, wo es doch in jüngerer Vergangenheit mehrfach schwerwiegendere Vorfälle gegeben hatte. So musste im Mai vergangenen Jahres ein Zweitligaspiel in Düsseldorf mehrfach unterbrochen worden, nachdem die Fans von Hansa Rostock randaliert und das Spielfeld mit Feuerwerkskörpern beworfen hatten. Damals wurde unter anderem Alexander Walke, der Torhüter des späteren Absteigers, getroffen und musste sich behandeln lassen. Das Spiel wurde nicht abgepfiffen. Der FC Hansa wurde lediglich zu einer niedrigen Geldstrafe und einem Auswärtsspiel ohne Fans verurteilt. Was diese Strafe genutzt hat, zeigte sich spätestens im Oktober desselben Jahres, als Hansa-Fans beim Auswärtsspiel in Dresden wiederum mit Pyrotechnik hantierten und mit Feuerwerkskörpern unter anderem auf Heimfans und den Schiedsrichterassistenten warfen. Wieder wurde von einem Geisterspiel geredet, wieder kam Hansa mit zwei Auswärtsspielen ohne eigene Fans und einer Geldstrafe glimpflich davon, und dass obwohl Feuerwerkskörper zweifelsfrei gefährlichere Wurfgeschosse sind als Bierbecher und in diesem Fall anders als in Hamburg auch Fans der gegnerischen Mannschaft angegriffen worden waren.

Auch in Österreich kam es am vergangenen Wochenende zu Szenen, die denen auf St. Pauli nicht unähnlich waren. Beim Spiel zwischen Sturm Graz und Rapid Wien flogen wiederholt Wurfgeschosse Richtung Spielfeld und auf den Rängen brannten Bengalos. Das Spiel ging über die volle Distanz und endete 3:3. Von Geisterspielen redet in der Alpenrepublik niemand.

Das Spiel in Hamburg wurde übrigens am grünen Tisch mit 2:0 für Schalke gewertet. Da verwundern die Worte von Hans E. Lorenz, dem Vorsitzenden des Sportgericht doch ein wenig, der verkündete: „Die Verursachung eines Spielabbruchs stellt einen schweren Eingriff in das Spielgeschehen und den Wettbewerb dar.“ Wenn ein Spiel nach dem Abbruch mit exakt dem Ergebnis gewertet wird, das auch zum Zeitpunkt des Abpfiffs auf der Anzeigetafel gestanden hatte, wo ist dann der schwere Eingriff in den Wettbewerb? Und weshalb spricht Lorenz vom Wettbewerb, wenn das einzig wirklich Kritikwürdige an dem Vorfall die fahrlässige Inkaufnahme einer Gefährdung des DFB-Offiziellen an der Seitenauslinie war? Und schließlich: Stellt das Urteil des Sportgerichts nicht einen viel schwerwiegenderen Eingriff in den Wettbewerb dar?

Es geht hier ganz offenbar nicht wirklich um den konkreten Einzelfall oder wie Lorenz es ausdrückt: „Die Sanktion ist auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten erforderlich und soll künftigen Rechtsverletzungen vorbeugen.“ Mal abgesehen davon, dass das Konzept der Strafe ohnehin zu kritisieren ist, bleibt die Frage, was der gemeine Fußballfan denn aus diesem Schauprozess bitte lernen soll. Die logische Schlussfolgerung müsste in etwa wie folgt aussehen: Du darfst mit Feuerwerkskörpern hantieren, sie auf andere Menschen werfen und ihnen Verbrennungen zufügen. Du darfst gegnerische Fans und Spieler rassistisch, sexistisch, homophob oder auch antisemitisch beschimpfen. Du darfst Busse und Sonderzüge mit gegnerischen Fans angreifen und du darfst dich vor dem Stadion prügeln. Du darfst mit Gegenständen auf das Spielfeld werfen. Mit Bechern, Feuerzeugen, Münzen und allem, was du sonst noch in die Finger bekommst. Du darfst sogar Spieler und gegnerische Fans bewerfen und auch treffen. Doch hüte dich davor, einen Schiedsrichterassistenten zu treffen, dann dann gibt es ein Geisterspiel. Das ist die Botschaft des Sportgerichts, denn sein Urteil in diesem Fall muss auch im Kontext zu seinem Verhalten oder Nicht-Verhalten in anderen Fällen gesehen werden. Das heißt natürlich nicht, dass was geschehen ist, okay ist. Doch sollte das Sportgericht lieber Augenmaß bewahren, anstatt auf übertriebenes öffentliches Geschrei mit Ronald-Schill-Gedächtnis-Urteilen zu reagieren. Nur weil mehr Zeitungen über einen Vorfall berichten, bedeutet das nicht automatisch, dass dieser auch schwerwiegender sein muss. Und fragen wir uns doch mal ehrlich: Hätte der FC Bayern die gleiche Strafe bekommen?

Der FC St. Pauli jedenfalls hat bereits Einspruch gegen das Urteil eingelegt. Seine Fans mobilisieren bereits im Internet dazu trotz geschlossener Tore zum Stadion zu kommen, um den Verein dann halt von außen aus anzufeuern. Einige Bremer Fans haben ihr Kommen ebenfalls schon angekündigt. Bei beiden Vereinen will sich offenbar niemand in Sippenhaft nehmen oder bestrafen lassen für das Vergehen eines Einzelnen. So bleibt abzuwarten, was am 23. April wirklich passieren wird. Entweder gibt es einen packenden Abstiegskrimi vor vollem Haus oder das erste Geisterspiel der Bundesligageschichte. Wer hierbei letzteres favorisiert, glaubt wahrscheinlich auch, dass Gefängnisse Verbrecher_innen zu besseren Menschen machen…

Kommentare

2 Kommentare zu “Becherwürfe, Schuld und Sühne – Ein Kommentar”

  1. Becherwürfe, Schuld und Sühne – Ein Kommentar « fussball von links am 04.09.11 11:34

    […] [hier] der ganze Artikel. […]

  2. chandler bing am 04.11.11 14:52

    Sippenhaft? Wer wird denn eingesperrt? Es geht ja eher um eine Aussperrung. Könnte es sein, dass hier “Sippenhaftung” gemeint ist?

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